50 Jahre danach ist nicht mehr der Homosexuelle pervers …
Vor 50 Jahren feierte der Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» von Rosa von Praunheim seine Uraufführung. Was sagen die Macher heute? Von Gregor Tholl, dpa
Schwule seien oft «politisch passiv» – und zwar «als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden». Provokanter ging es kaum. Vor 50 Jahren (3.7.) feierte der Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» seine Uraufführung bei der Berlinale. Das gut einstündige Werk von Rosa von Praunheim gilt als Geburtsstunde der modernen Schwulenbewegung in Deutschland. Heute kann der Stummfilm mit Sprecher im Stil der Sozialkritik ziemlich befremdlich wirken. Anlässlich des Jubiläums strahlt der WDR den Film am Sonntagabend (4.7.) nochmal aus. Im Anschluss wird auch eine Debatte mit den Autoren Rosa von Praunheim und Martin Dannecker aus dem Jahr 1973 wiederholt.
1971 – Das war keine 30 Jahre nach den Verfolgungsexzessen der Nazis und keine zwei Jahre, nachdem praktizierte männliche Homosexualität unter Erwachsenen in der Bundesrepublik überhaupt legal geworden war. Die Regenbogenflagge als Symbol für Akzeptanz und Gleichberechtigung von Menschen, die sich nicht mit den angeblichen Normen rund um Geschlecht und Sex identifizieren, war noch gar nicht erfunden.
Der Sommer 1971 war ein sehr bewegter: Anfang Juni bekannten im Stern Hunderte Frauen «Wir haben abgetrieben!», nicht nur Initiatorin Alice Schwarzer betrachtet diese Aktion heute als Geburtsstunde der modernen deutschen Frauenbewegung. Einen Monat danach trat eine nächste von Heteromännern marginalisierte Gruppe ihre Bewegung los: Schwule.
In von Praunheims Film heisst es: «Da die Schwulen vom Spiesser als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spiessiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermass an bürgerlichen Tugenden.» Oft würden sie «Freizeit-Schwule», die aus der verlogenen Arbeitswelt in die Subkultur fliehen, wo man sie kaum als Individuum anerkenne, jedoch als Schwule. Fazit: «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt».
Vordenker Dannecker – Jahrgang 1942 und heute 78 Jahre alt wie auch Alice Schwarzer und Rosa von Praunheim – setzte auch in seinem Standardwerk «Der gewöhnliche Homosexuelle» (zusammen mit Reimut Reiche) ganz im 68er-Zeitgeist auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule mit Psychoanalyse und Marxismus. In den 80ern, als das HI-Virus alles Reden über Schwule zu dominieren begann, äusserte sich der Sexualwissenschaftler Dannecker auch viel zum Trauma AIDS. Er sah die Gefahr, dass alte Feindbilder (Stichwort «Schwulenseuche», «Schwulenkrebs») wiederbelebt werden, kämpfte zugleich für den liberalen Weg der Eindämmung, also die beginnende Zusammenarbeit von Schwulen mit dem jahrzehntelang als Feind wahrgenommenen Staat.
Beim Thema HIV kam es zum offenen Bruch mit Rosa von Praunheim. Während der Filmemacher und Aktivist Schwule dazu aufrief, im Angesicht von AIDS auf Promiskuität zu verzichten, setzte Dannecker die individuelle Freiheit dagegen und sprach sich vehement gegen die moralische Abwertung ungeschützten Geschlechtsverkehrs aus.
Rein gesellschaftlich haben wir die kleinbürgerliche Ehe nicht als Ideal gesehen.
Inzwischen reden die beiden Doyens der Schwulenbewegung wieder miteinander, auch wenn sie keine besten Freunde sind, wie beide sagen. Einig sind sie sich beim Thema Ehe für Alle. Im Rahmen der Gleichstellung und auf der bürgerrechtlichen Ebene sei das natürlich okay, dass Lesben und Schwule heiraten dürfen. Praunheim sagt: «Ich bin nicht dagegen, aber rein gesellschaftlich haben wir die kleinbürgerliche Ehe nicht so als Ideal gesehen.» Und Dannecker sagt ganz altlinks, das sei ihm «ein Stück zuviel staatliche Anerkennung».
Dannecker zog nach dem Ende seiner Arbeit am Institut für Sexualforschung der Uni Frankfurt vor 15 Jahren nach Berlin. Heute berät er noch als Supervisor. Von Praunheim, der sich nach dem Frankfurter Stadtteil benannt hat, in dem er aufwuchs, lebt schon lange in Berlin. Er drehte eine Menge Filme, wurde vielfach ausgezeichnet und war auch Regie-Professor an der Filmuniversität Babelsberg in Potsdam. Zurzeit ist er nach eigenen Worten «mitten in den Drehvorbereitungen für ein Dokudrama über den Sänger Rex Gildo».
Die Frage, ob die Gesellschaft in der Corona-Krise von Schwulen etwas lernen könne, die die HIV-Pandemie als Gruppe besonders betraf, sehen sowohl Dannecker als auch von Praunheim skeptisch.
Wahrscheinlich habe Deutschland über HIV und Aids gelernt, eine Krise, die mit einem komplizierten Virus und einer tödlichen Erkrankung zusammenhänge, «einigermassen angemessen zu bewältigen», meint Dannecker (MANNSCHAFT berichtete). Doch das Coronavirus betreffe potenziell alle. «Aids hatte dagegen von Anfang an eine Beziehung zu sogenannten Risikogruppen. Das hat Diskriminierung aufgeladen.»
Zwar stecke auch in Corona ein Stigmatisierungspotenzial, etwa gegen junge oder arme Menschen, und es habe da im vergangenen Jahr immer wieder Versuche gegeben. «Aber wenn ich mich nicht täusche, dann sind diese Diskriminierungsansätze immer wieder in sich zusammengefallen.»
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