«Queer Cinema Now»: Entdeckungsreise ohne Verrisse
Salzgeber legt eine reich illustriere Artikelsammlung zu den wichtigsten LGBTIQ-Filmen der letzten Jahre vor
Seit 2009 schreiben einige der besten deutschen Filmkritiker*innen auf dem Filmportal sissy über queeres Kino. Das Buch «Queer Cinema Now» versammelt über 200 Liebeserklärungen an die zentralen Filme des nicht-heteronormativen Kinos aus zwölf Jahren.
Der vom Salzgeber Verlag herausgegebene 352-Seiten Band mit vielen Bildern bietet, laut Pressemitteilung, «einen repräsentativen Überblick über die wichtigsten Werke der jüngeren queeren Filmgeschichte». (MANNSCHAFT berichtete über zehn ältere queere Filme, die es lohnt wiederzuentdecken.)
Unter den vorgestellten Filmen sind moderne Klassiker wie «A Single Man», «Weekend», «Blau ist eine warme Farbe», «Carol», «Moonlight», «God’s Own Country», «Call Me by Your Name», «Girl», oder «Bohemian Rhapsody» ebenso wie die zentralen nicht-heteronormativen deutschen Filme der letzten Jahre: «Freier Fall», «Die Mitte der Welt» oder «Futur Drei».
«Queer Cinema Now» lädt auch ein, bisher weniger bekannte Filmperlen wie «Rückenwind», «Jaurès», «Begegnungen nach Mitternacht» oder «Gute Manieren» zu entdecken.
Zu den Autor*innen gehören u. a. Thomas Abeltshauser, Matthias Frings, Malte Göbel, Patrick Heidmann, Enrico Ippolito, Anne-Katrin Jung, Jan Künemund, Claudia Lenssen, Christian Lütjens, Peter Rehberg, Axel Schock und Paul Schulz.
Im Vorwort wird der englische Begriff «sissy» erklärt, der Namensgeber für das Filmportal ist: «‹Die sissy steht für eine begehrenswerte Welt aus Raffinesse und purem Vergnügen, weit entfernt vom langweiligen Status quo.› Dieses Zitat aus einer queeren Enzyklopädie, in der angeblich die stereotype Filmfigur der ‹sissy› definiert wurde, stand bereits im Editorial des ersten sissy-Hefts im Frühjahr 2009. Als ‹sissy› wird in der Filmgeschichte eine männliche Nebenfigur bezeichnet, die in der Regel als bester Freund einer Hauptfigur fungiert. Sie hat kein eigenes erotisches Interesse, aber ihr Schwulsein bzw. ihre sexuell uneindeutige Orientierung werden kaum übersehbar angedeutet. Im Rahmen eines heteronormativen Erzählmusters festigt die ‹sissy› zwar dramaturgisch die Dominanz der heterosexuellen Hauptfiguren, da sie für diese keine Konkurrenz darstellt. Sie hat aber als Repräsentantin einer anderen Männlichkeit einen eigenen Spielraum – und eigene Fans.»
Als ‹sissy› wird in der Filmgeschichte eine männliche Nebenfigur bezeichnet, die in der Regel als bester Freund einer Hauptfigur fungiert
Und weiter: «Heute ist nicht mehr ganz klar, ob der Satz aus dem Ersteditorial frei erfunden oder zumindest ziemlich kreativ übersetzt wurde. In jedem Fall ging es darum, einen Ton zu setzen: Ein Magazin sollte eingeführt werden, um das in Deutschland stattfindende queere Kino publizistisch zu begleiten.» (MANNSCHAFT+ berichtete über historische queere Charaktere in neuen Serien.)
Last der Repräsentationsansprüche Im Buch erfährt man: «Schaffte es ein Film, an den Kinokassen erfolgreich von nicht-cis-und-heterosexuellen Erfahrungen zu erzählen, wurde er unter der Last der Repräsentationsansprüche erdrückt: Erzählt er denn auch tatsächlich von uns? Finden wir uns auch alle darin wieder? Darf er überhaupt für uns sprechen? Und warum sieht er eigentlich nicht so gut aus wie ein großer Hollywood-Film?»
All diesen Fragen widmen sich die Autor*innen in ihren oft bewusst persönlich gehaltenen Reflektionen auf die behandelten Filme. Verrisse gibt es in der sissy allerdings kaum. «Daran mag man den Werbecharakter ablesen, den sie natürlich hatte und hat», heisst es selbstkritisch.
Aber auch: «Tatsächlich war und ist das auch Ausdruck einer Haltung: Jeder Film besitzt etwas, was man an ihm lieben kann, es braucht nur die richtige Autorin oder den richtigen Autor, um das herauszuarbeiten. Es kann nicht sein, dass etwas, das mindestens zwei Jahre Produktionszeit braucht und Ergebnis kollektiver Anstrengung von Menschen ist, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren, nicht an irgendeiner Ecke funkelt.» (MANNSCHAFT stellt queeren Serien-Geheimtipps vor.)
«Out im Kino: Das lesbisch-schwule Filmlexikon» Man könnte das neue Buch als Update von «Out im Kino: Das lesbisch-schwule Filmlexikon» sehen, das Axel Schock und Manuela Kay 2003 herausgegeben hatten.
Das neue Buch ist auch eine willkommene Ergänzung zum «Queer Cinema» betitelten Essayband, den Dagmar Brunow und Simon Dickel 2018 beim Ventil Verlag herausgegeben hatten. Die Texte darin sind deutlich theoretischer und weniger auf Einzelfilme bezogen, es ist vielmehr eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Queer Cinema an sich.
Etliche Autor*innen sind identisch. Spannende Einzelaspekte dabei sind u. a. Peter Rehbergs Frage «Ist der Schwulenporno queer?» oder Florian Krauß‘ Essay «Ist Trans das neue Queer?». (MANNSCHAFT+ berichtete über die Produktion von schwulen Pornofilme in Pandemiezeiten.)
Besonders lesenswert ist Chris Tedjasukmanas Beitrag «Das Webvideo als Flaschenpost».
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