Puppe oder Bauklotz? Rollenklischees spalten Wissenschaft
Dabei besteht keine Einigkeit darüber, was typisches Jungen- oder Mädchenspielzeug überhaupt sein soll
Puppen für die einen, Bauklötze für die anderen: Die Rollenklischees von Frauen und Männern verändern sich. Dabei streitet sich die Wissenschaft weiter um den Einfluss der Biologie.
Von Vanessa Köneke, dpa
Eltern, die ihr Kind für Krippe oder Kindergarten anmelden, müssten meist eine Frage als Erstes beantworten: Junge oder Mädchen? Wenn man Kindergartenkinder beobachtet, scheint das auf den ersten Blick auch sinnvoll. Man sieht häufig Mädchen – oft in Rosa, Glitzer und Rock gekleidet, die zusammen Spiele wie «Mutter, Vater, Kind» spielen oder miteinander turnen, tanzen und reden.
Viele Jungs hingegen werkeln eher in der Bauecke oder flitzen mit Laufrädern über den Hof. Was daran ist angeboren und was anerzogen beziehungsweise durch die Kultur geprägt? In der Wissenschaft ist diese Frage allgemein unter dem Stichwort «Nature versus Nurture» bekannt.
«Geschlechterunterschiede in der Wahl von Spielzeug existieren und scheinen ein Produkt von beidem zu sein, angeborener und sozialer Kräfte», schlussfolgerten 2017 die Autorinnen und Autoren einer Meta-Analyse, also einer Auswertung mehrerer Studien. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten sich 16 Studien mit Kindern im Alter zwischen einem und acht Jahren angeschaut. Die Studien stammten aus verschiedenen Jahren.
Das Ergebnis: Jungen spielten mehr mit als typisch männlichen geltenden Spielzeugen wie Fahrzeugen und Mädchen mehr mit als typisch weiblich geltenden Spielzeugen wie Puppen. Laut den Autor*innen könnte sich das unter anderem durch hormonelle Unterschiede erklären lassen. Aber: Bei Jungs war die Vorliebe bei älteren Kindern noch ausgeprägter als bei jüngeren und die Geschlechterunterschiede zeigten sich stärker in älteren Studien. Das könnte auch an Umwelteinflüssen liegen.
Farbvorlieben, ob pink oder blau, gelten als vollständig sozial konstruiert. Ob Kinder aber von sich aus geschlechtsspezifische Vorlieben für Spielzeug zeigen, ist kaum zu beantworten, meint Almut Schnerring aus Bonn, die sich seit über zehn Jahren als Buchautorin und Speakerin mit den Themen «Rosa-Hellblau-Falle» und Equal Care beschäftigt. «Der Einfluss der Umwelt ist immer vorhanden – ab Tag 1», sagt Schnerring.
Dazu gehörten nicht nur je nach Geschlecht andere Motive und Farben im Kinderzimmer, auf der Kleidung und auf Schnullern. Studien zeigten beispielsweise, dass Eltern schon mit den Föten im Mutterleib unterschiedlich umgingen und etwa mit Mädchen mehr sprächen. In Experimenten würden Menschen mit ein und demselben Baby verschieden spielen, je nachdem, ob sie es für Junge oder Mädchen halten. Das Verhalten sei oft unbewusst. Wenn einjährige Kinder eine Spielvorliebe zeigen, kann laut Schnerring also schon das an kulturellen Einflüssen liegen. «Biologie und Sozialisation lassen sich nicht separat untersuchen», sagt sie.
Die Psychologin Doris Bischof-Köhler aus Oberbayern meint hingegen, dass die Geschlechter von Natur aus anders seien. Wenn Jungen bereits im Kindergarten eine Vorliebe für Raufspiele hätten, gäbe es dafür evolutionspsychologische Gründe. Auch der Primatologe Frans de Waal nannte Studien, in denen weibliche Affen eher mit Puppen spielten als männliche. «Eine Pfanne im Affengehege als weiblich zu konnotieren, ist aber abstrus», meint Schnerring. Tatsächlich besteht längst keine Einigkeit darüber, was typisches Jungenspielzeug und typisches Mädchenspielzeug überhaupt sein soll. Zu diesem Fazit kam eine 2020 veröffentlichte Überblicksarbeit mit einer Auswertung von 75 Studien.
Unbestritten ist hingegen, dass sich Umwelt und Biologie wechselseitig beeinflussen können. Die Umwelt kann eventuell vorhandene Geschlechterunterschiede verstärken – etwa wenn Kinder nur «geschlechtstypisches» Spielzeug erhalten, Eltern positiver auf als typisch geltende Spiele reagieren oder Kinder andere Kinder je nach Geschlecht bei verschiedenen Spielen beobachten. Die Umwelt kann sogar Gene verändern (sogenannte Epigenetik).
Dass Geschlechterunterschiede im Laufe der ersten Lebensjahre häufig zunehmen, liegt laut Schnerring viel an Gendermarketing. Schultüten, Überraschungseier, Bücher, Shampoos, Hausschuhe – fast alles gibt es inzwischen in zwei Ausführungen: Junge versus Mädchen, Pirat versus Prinzessin. «Es gab noch keine Generation zuvor, die so zugeschüttet wurde mit binären Botschaften», sagt Scherring.
Zwar seien Zinnsoldaten und Puppen früher auch geschlechtlich zugeordnet worden, aber es habe keine Verstärkung durch Instagram, Riesenplakate an Bushaltestellen oder Kinderfernsehen gegeben. «Viele Kinder wollen diese rosa-blau getrennte Welt zunächst gar nicht, aber ihre Stimme wird nicht gehört», meint Schnerring. Dass Gendermarketing zugenommen hat, beobachten auch die Medienwissenschaftlerinnen Maya Götz aus München und Birgit Irrgang vom Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in Augsburg.
Selbst wenn sich nicht eindeutig klären lässt, welchen Anteil Umwelt und Natur an unterschiedlichem Spielverhalten haben – klar ist, dass sich nicht alle Kinder mit den Geschlechterstereotypen identifizieren. Ausserdem können Geschlechterstereotype Auswirkungen auf das spätere Leben und die Gesellschaft haben, die nicht immer gewünscht sind.
Wer im Kindergarten vor allem Jungen Bauklötze und Fahrzeuge anbietet, muss sich nicht wundern, bei Jugendlichen und jungen Erwachsene spezielle Frauenprogramme auflegen zu müssen, um Interesse für Naturwissenschaft und Technik (MINT) zu wecken. Wenn Mädchen etwa häufiger hören, dass Mädchen nicht so gut im Werken seien wie Jungs, kann der sogenannte Stereotype Threat dazu führen, dass sie im Werken tatsächlich schlechter abschneiden.
Schnerring wünscht sich, dass Erwachsene sich beim Vorsortieren von Spielzeug mehr zurücknehmen. «Wichtig ist, Vielfalt anzubieten und dem Binären immer wieder etwas entgegenzusetzen.» Ausserdem sollte man im Gespräch bleiben. »Wenn das Kind heute den rosa Ball will, mag es vielleicht trotzdem morgen das gelbe Fahrrad.»
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