Mehr Queerness für Wagner und Bayreuth!
LGBTIQ gehört zu den im Bayreuther Kreise noch immer marginal behandelten Themen
Der Rote Teppich wird wieder ausgerollt vor dem Festspielhaus: Am Dienstag Nachmittag beginnen die Bayreuther Festspiele. Kurz zuvor erschien der Band «Wagnerspectrum» zu «Wagner, Sex und Gender».
von Roland H. Dippel
Richard Wagner und die Bayreuther Festspiele sind immer für Skandale und Skandälchen gut. Für Jüd*innen und Homosexuelle ging es in Deutschlands dunklen Jahren 1933 bis 1945 auch dort um die Bedrohung von Leib und Leben – sogar als die sonst straff Hitler-affine Festspielleiterin Winifred Wagner ihre guten Beziehungen spielen liess und zum Beispiel die Liquidierung des Heldentenors Max Lorenz nach einem queeren In-flagranti-Eklat hinter den Kulissen verhindern konnte.
Jüdische Persönlichkeiten und Opfer des Nationalsozialismus sind seit einigen Jahren durch Gedenktafeln im Festspielpark dokumentiert. Doch an der Sichtbarmachung von LGBTIQ-Personen fehlt es, obwohl die Leistungen von Festspielleiterin Katharina Wagner um eine offene Atmosphäre auf dem Grünen Hügel ernstzunehmen sind.
Augmented-Reality-Brillen Auch in diesem Festspielsommer wird es – ausser in der Wiederaufnahme der «Tannhäuser»-Inszenierung von Tobias Kratzer mit der britischen Dragqueen Le Gateau Chocolat – nur peripher um queere Spuren in Wagners Werken und deren Wiedergabe gehen. Im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen diesmal die Augmented-Reality-Brillen für einen Teil des Publikums in der Neuinszenierung von Wagners sinnen- und sexfeindlichem Bühnenweihfestspiel «Parsifal» durch Jay Scheib.
LGBTIQ gehört trotz früher Thematisierung durch die queere Emanzipationsliteratur seit zirka 1900 zu den im Bayreuther Kreise noch immer marginal behandelten Themen. Die von einem wissenschaftlichen Team aus Lehr- und Forschungsstätten herausgegebene, zweimal jährlich erscheinenden «Wagnerspectrum» setzte im soeben erschienenen Band den Schwerpunkt «Wagner, Sex und Gender» – für das Zentrum des Wagnerkults eine Pionierleistung.
MANNSCHAFT-Autor Kevin Clarke steuerte den Aufsatz «Versteckte LGBT-Netzwerke bei den Bayreuther Festspielen in der Ära Siegfried Wagners» – also von 1908 bis 1930 – bei. Der Musikwissenschaftler Clarke konstatiert, dass sachliche Erschliessung und Sichtbarmachung von Zusammenhängen zwischen geschlechtlicher Identität, Kulturberufen und biographischen Entwicklungen im deutschen Sprachraum noch selten sind. Autoren wie der US-amerikanische Musikkritiker Alex Ross in seinem monumentalen Buch «Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne» agieren unverkrampfter und finden damit ein breites Lesepublikum.
«Wagner und die Männerliebe» «Das ist doch alles längst bekannt», sagte Martha Schad (geb. 1939) bereits in den 1990-Jahren mehrfach, wenn es um mannmännliche Handlungen von Wagners Sohn Siegfried (1969 bis 1930) und die deshalb in Bayreuth eingetrudelten Erpresserbriefe ging. Die auflagenstarke Autorin widmete sich zum Beispiel den Frauen europäischer Adelsdynastien und «Frauen gegen Hitler. Schicksale im Nationalsozialismus».Schads Pionierleistung ist die erstmalige Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Cosima von Bülow, später Wagners zweite Ehefrau, und Ludwig II. von Bayern (Erstausgabe 1996). Eine Crux der Wagner-Forschung wird offenbar. Schad weiss zwar viel über Nicht-Heteronormatives und latente Konsequenzen daraus für Dynastien wie die Familie Wagner und Einrichtungen wie die Bayreuther Festspielen, schrieb aber nur wenig darüber.
Umgekehrt verhält es sich im Wagnerspektrum-Band: Nikolai Endres differenziert im Aufsatz «Wagner und die Männerliebe» zwischen potenziellen bzw. nachweisbaren sexuellen Handlungen, dem übersteigertem (und deshalb schwul wirkendem) Sprachgebrauch in Männerfreundschaften wie zum Beispiel der zwischen dem Bayernkönig und seinem Komponisten-Freund Richard Wagner. Aber Endres denkt nicht daran, am Sprachgebrauch Ludwigs II: in der Korrespondenz mit Wagner bzw. mit Cosima persönliche Emotion und emotionalisierte Rhetorik zu unterscheiden. An solchen gegenseitigen Transfer-Versäumnissen wird deutlich, dass es zwischen heteronormativen, queeren, nicht-binären und anderen Positionen noch viele Lücken gibt.
In dem Wagnerspektrum Band prallen mindestens drei Perspektiven aufeinander. Zum einen die Musikwissenschaftlerinnen Eva Rieger, Nina Noeske und Friederike Wißmann, die einen entschieden fraulichen und damit notwendigen Blick auf Wagners Denken und Werk einfordern. Wißmanns Aufsatz über die komplexe wie hysterisch aufgeheizte Figur der Kundry in «Parsifal» sowie deren Niedergang als Triebwesen unter dem Aufstieg Parsifals zum asketischen Ordenskönig versucht eine explizit frauliche Deutung, gelangt damit aber nicht zur Widerlegung bisheriger Interpretationen. Ob Kundrys Tod im Gralstempel weiterhin eine vermutete frauenfeindliche Position Wagners bestätigen kann, bleibt offen, zumal Wagner den binären Dualismus auch als metaphorischen Antriebsmoment für alle menschlichen Geschlechtsempfindungen verstand.
«Men’s Health: (Queere) Männlichkeit in Illustrationen und Kostümentwürfen zu Wagners Ring» Auf einer verhältnismässig jungen Ebene der wissenschaftlichen Annäherung geht es in Nick M. Sternitzkes Aufsatz um «Men’s Health: (Queere) Männlichkeit in Illustrationen und Kostümentwürfen zu Wagners Ring» um die Codierung kreativer Adaptionen aus einer queeren bis nicht-binären Haltung und Perspektive (MANNSCHAFT berichtete).
Wie sehr die Auseinandersetzung mit queeren Fakten und Aspekten im historischen und gegenwärtigen Wagner-Umfeld noch im Frühstadium steckt, belegen drei Auffälligkeiten. Die solitäre Exklusivität wird aus keiner Perspektive in Frage gestellt. Phänomene werden in 90% aller Argumente nur aus dem künstlerischen und literarischem Werk Wagners sowie der familiär-ideologischen Wagner-Netzwerke erklärt, aber nur relativ selten zu zeitgleichen sozialen und kulturellen Befindlichkeiten in Beziehung gesetzt. Erklärungsversuche erfolgen auch durch angebliche Mehrheitsquoten, wenn zum Beispiel auf ein Übergewicht männlich konnotierter Zeichen in Wagners Partituren geschlossen wird, obwohl das inhaltlich-thematische Konstrukt für «Der Ring des Nibelungen» die moralische Überlegenheit der fraulichen Hauptfigur Brünnhilde manifestiert. Schliesslich besteht noch immer eine wissenschaftliche Mauer zwischen den Approximativen aus Geschichte und Politik, Kulturwissenschaft zu queeren Ansätzen.
Bei der Pressekonferenz am Montag, dem Vortag der Festspieleröffnung gab Wagner-Urenkelin und Festspielleiterin Katharina Wagner die Pläne bis zum 150-Jahre-Jubiläum der Bayreuther Festspiele 2026 bekannt. Auf die Frage, ob man da auch ein Projekt für bzw. über Siegfried Wagner, die einzige mit ihren bi bzw. homosexuellen Anteilen erschlossene Persönlichkeit der Familie Wagner, in Erwägung ziehe, lautete die Antwort: «Die Familie und der Stiftungsrat denken darüber nach, sofern finanzielle Mittel vorhanden sind.»
So bleibt für die normative Wagner-Welt in Sachen queere Forschung und Erschliessung vorerst alles beim Alten. Man weiss zwar viel über Siegfried Wagners Intimleben und anderes, aber irgendwie passt die Auseinandersetzung mit dieser queeren Schlüsselfigur der Familien- und Festspielgeschichte aus Gründen der Konvention, Tradition und sogar aus politisch korrekten Bedenken nicht so recht ins Wagner-Gesamtpaket und seines international ausstrahlenden Umfelds. Dabei ist man mit der Lockerung früherer ortsspezifischer Tabus – wie der Verkaufslockerung für Einzelstücke beim Vierteiler «Der Ring des Nibelungen» – weitaus offener.
Ein pluralistischer Anfang Auch zum 150. Geburtstag Siegfried Wagners gab es 2019 keine Details über dessen sexuelle Orientierung in der Hommage-Ausstellung des Richard-Wagner-Museums Bayreuth. Immerhin ist man 54 Jahre nach Stonewall in Bayreuth zum Bekenntnis bereit, dass man über Queerdenken und LGBTIQ im Umfeld Wagners einiges weiss.
Die nächste Aufgabe wird demzufolge sein, auf breiter Basis und neben ambitionierten Nischenpublikationen LGBTIQ-Aspekte auf der repräsentativen Ebene deutlicher zu thematisieren: Ohne Skandal-Ambition und ohne Scheuklappen, selbst wenn diese Sehschlitze haben. Der Wagnerspektrum-Band könnte ein pluralistischer Anfang dafür sein, weil er die Positionen verschiedener Generationen und Lager bündelt. Mit Widerhaken und Kommunikationslücken, aber immerhin …
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