«La Cage aux Folles» und «Hello Dolly»: Jerry Herman ist tot
Er schuf 1983 den ersten kommerziellen Broadway-Hit mit einem schwulen Paar als Titelrollen und mit «I Am What I Am» eine der berühmtesten LGBTIQ-Hymnen aller Zeiten
Jerry Herman hat mit Shows wie «Hello Dolly» und «Mame» Broadway-Geschichte geschrieben. Mit seinem Hit «La Cage aux Folles» katapultierte er sich 1983 auch in die LGBTIQ-Geschichtsbücher. Jetzt ist der US-Komponist am zweiten Weihnachtsfeiertag in Miami gestorben, im Alter von 88 Jahren.
Seine Patentochter Jane Dorian bestätigte den Tod gegenüber der Associated Press am frühen Freitagmorgen. Herman starb an Lungenkomplikationen in Florida, wo er zusammen mit seinem Partner Terry Marler lebte, einem Immobilienmakler.
Herman wurde 1931 in New York geboren und wuchs in Jersey City auf. Seine Eltern betrieben ein Kinder-Sommercamp in den Catskills, die jüngst durch die TV-Serie «The Marvellous Mrs. Maisel» neuerlich bekannt wurden. Er brachte sich dort selbst das Klavierspielen bei.
Nach vier Jahren Studium an der Universität von Miami kehrte Herman nach New York zurück und arbeitete als Pianist in Jazz Clubs. Er schrieb erste Lieder, mit denen er 1960 sein Broadway-Debüt gab in der Revue «From A to Z», eine Show, die auch Material von Fred Ebb («Cabaret», «Chicago») und Woody Allen enthielt. Ein Jahr später komponierte er die vollständige Partitur für ein Musical über die Gründung des Staates Israel, es hieß «Milk and Honey» und brachte ihm seine erste Tony-Nominierung ein.
Dann kam 1964 «Hello Dolly» raus mit Carol Channing in der Titelrolle. Der Rest ist Geschichte. Eine Diva nach der anderen übernahm die dankbare Partie, von Barbra Streisand bis Bette Midler. 2020 ist in London eine Neuproduktion geplant mit Imelda Staunton.
Put On Your Sunday Clothes Etliche der Lieder landeten in den Hitparaden. Einige fanden ihren Weg später unverhofft in ganz andere Kontexte.
So wurde «Out There/Put On Your Sunday Clothes» zum Eröffnungslied in dem animierten Scifi-Film «Wall-E», wodurch Hermans Musik eine neue Generation von Fans erreichte.
Hermans Karriere blühte weiter. Er schrieb für Angela Lansbury den Hit «Mame» über eine überlebensgroße Frau, die die Erziehung ihres Neffen in eigene Hände nimmt. Das Stück geniesst in Schwulenkreise geradezu Kult-Status, ebenso «Mack & Mabel», wovon es eine unvergleichliche Aufnahme mit Bernadette Peters und Robert Preston («Victor/Victoria») gibt.
Dann brachte er 1983 in New York «La Cage aux Folles» heraus: das erste kommerzielle Broadway-Musical über ein glückliches schwules Paar mit Kindern, das sämtliche Preise abräumte. 1984 gewann Herman damit sogar den Tony für «Bestes Musical» gegen Stephen Sondheims «Sunday in the Park with George», was ihm Hardcore-Sondheim-Fans nie vergeben konnten.
Mit dem Finale des ersten Akts («I Am What I Am») komponierte Herman kurz vor Ausbruch der Aidskrise die Schwulenhymne schlechthin.
Bei den Tony Awards durfte Hauptdarsteller George Hearn die LGBTIQ-Kampfhymne nicht in Drag singen (die Galaveranstaltung wurde im Fernsehen übertragen und man hatte Angst, so etwas dem TV-Publikum zuzumuten). 1984 korrigierte Walter Charles diesen Akt-der-Zaghaftigkeit, als er das Lied bei den Grammys so sang, wie es im Stück vorkommt. Glücklicherweise ist dieser Moment auf Video festgehalten.
Trotz Thatcher und Reagan «La Cage» wurde anfangs überschattet vom Aids-Massensterben. In London wurde die Show vorzeitig abgesetzt, weil das Mainstream-Publikum in den Thatcher-Jahren ein Stück über glückliche Homosexuelle «geschmacklos» fand. Trotzdem konnte sich das Werk in Zeiten von extremer Homophobie behaupten, auch in den USA, wo Ronald Reagan als Präsident im Amt war und sein Unwesen trieb.
In Deutschland schlug «La Cage» 1985 am Theater des Westens in Berlin wie eine Bombe ein, mit Helmut Baumann in der Hauptrolle. «Traumschiff»-Kapitän Günter König gab damals den Ehemann Georges. (Vielleicht schafft der neue Kapität Florian Silbereisen das ja auch irgendwann einmal.) Zur Erinnerung: In der BRD war damals Helmut Kohl Bundeskanzler und auch nicht gerade für seine LGBTIQ-Freundlichkeit bekannt.
Das Textbuch zu «La Cage» schrieb Harvey Fierstein («Torch Song Trilogy»). Inzwischen zählt das Stück zu den beliebtesten Musicals überhaupt, mit hunderten Produktionen weltweit, die aktuell laufen. Und «I Am What I Am» hat so ziemlich jede(r) gesungen – Shirley Bassey und Gloria Gaynor inklusive.
In der Ausstellung «Kiss My Genders» in London konnte man 2019 eine imposante Dragqueen-Version dieser Nummer erleben, die das Lied nun auch in der queeren Kunstszene etabliert hat. Wo es bestens aufgehoben ist!
Der Sender PBS zeigte vor Jahren eine Dokumentation zum Leben von Jerry Herman, die man vollständig auf YouTube sehen kann. Darin spricht Herman auch sehr bewegend über seine eigene HIV-Diagnose, die er bekam bevor die moderne Kombitherapie eingeführt wurde, und er spricht darüber, wie in den 1980er-Jahren sein Lebenspartner an Aids starb. Dieses Thema hatter er bereits 1996 in seiner Autobiographie sehr öffentlich behandelt.
Jerry Herman wird überlebt von seinem Partner Marler und seinen Patentöchtern Jane Dorian und Dorians Tochter Sarah Haspel.
Mit ihm geht eine echte Legende. Und einer der ersten offen schwulen Broadway-Autoren von Weltformat, der das bis heute erfolgreichste LGBTIQ-Musical aller Zeiten geschrieben hat. (Zur Erinnerung: Stephen Sondheim hat seine Homosexualität lange nicht öffentlich angesprochen und LGBTIQ auf nicht explizit zum Thema eines seiner Stücke gemacht, trotz einer enoremen schwulen Fan-Base.) Herman bereitete den Weg für spätere LGBTIQ-Erfolgs-Musicals wie «Fun Home», «The Prom», «Everyone’s Talking About Jamie», «Falsettos», «Kinky Boots», «Kuss der Spinnenfrau» u.v.m. Er hat gezeigt, dass es möglich ist, mit LGBTIQ-Themen den Massenmarkt zu erreichen und Geld damit zu verdienen – viel Geld sogar. Das gilt nicht nur für Musicals, sondern wie sich später zeigte auch für Hollywoodfilme und TV-Serien.
R.I.P., Mr. Herman!
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