«Hör auf zu lügen» ist eine schwule Offenbarung
Klarer, anrührender und schöner kann die Entstehung von schwulem Stolz und schwuler Selbstverleugnung aus identischen Bedingungen nicht erzählt und beschrieben werden, findet unser Rezensent
«Hör auf zu lügen» von Philippe Besson ist ein Stimmungsbild eines Coming-of-Age der 80er Jahre als Bekenntnisroman. Aber vor allem: ein wunderschöner, berührender Text über eine schwule Jugendliebe in Frankreich. Veit Schmidt aus der Wiener Buchhandlung «Löwenherz» hat ihn für uns gelesen.
Der 17jährige Philippe, unsportlich, schüchtern, intellektuell, kann es kaum fassen, dass Thomas, der umschwärmte und blendend aussehende Bauernsohn, sich gerade für ihn interessiert. Die beiden werden ein Paar – doch trotz intimer Vertrautheit und leidenschaftlichem Sex kann es keine romantische Liebe werden. Denn Thomas macht zur Bedingung, dass ihre Beziehung niemals bekannt werden darf. Nach dem Abitur trennen sich ihre Wege – Thomas hat es von Anfang an gesagt: »Du wirst gehen, während wir bleiben werden.«
Nach dem Coming-out wünschte seine Mutter ihm den Tod
Jahre später erhält Philippe einen Brief aus dem Nachlass von Thomas, der eine Zäsur im Schreiben des Romanciers auslösen wird. Philippes Mutter hatte ihn immer ermahnt: »Hör auf zu lügen!« Sie meinte damit seine introvertierte Art, den eigenen Gedanken nachzuhängen; so falsch ihre Worte gegenüber ihrem heranwachsenden Sohn waren, so wahr werden sie im Nachhinein für den erwachsenen Schriftsteller, denn in all seinen Romanen ging es immer nur vordergründig um eine gut erzählte fremde Liebe, vor allem aber um seine eigene erste, die zu Thomas. Doch deren lebensbestimmende Wahrheit, die durch die »Lügen« der früheren Romane nur durchschimmern, nie aber zur Geltung kommen konnte, besteht nicht darin, eine verlorene, an der Gesellschaft gescheiterte erste Jugendliebe gewesen zu sein.
In ihrer gegensätzlichen Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen mussten die beiden scheitern
Philippe und Thomas ringen nicht mit sich selbst, ob es in Ordnung sei, schwul zu sein; einzig familiäre und gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen sind es, die ihre Liebe zu einer unmöglichen machen – und zwar nicht, weil die Welt sich gegen diese Liebe stellt, sondern weil Philippe und Thomas nicht auf gleiche Weise auf diese Ablehnung reagieren können. Wären beide wie Thomas ihr Leben lang im Versteck geblieben oder hätten sich beide gemeinsam für ein offenes Auftreten gegen die Welt entschließen können – sie hätten als Paar vielleicht eine Chance gehabt; in ihrer gegensätzlichen Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen mussten die beiden jedoch scheitern.
Das Buch ist eine schwule Offenbarung: Klarer, anrührender und schöner kann die Entstehung von schwulem Stolz und schwuler Selbstverleugnung aus identischen Bedingungen nicht erzählt und beschrieben werden. Die Lüge als Wahrheit: Selbstinszenierung und authentischer Kern, Täuschung und Aufrichtigkeit – eben Lüge und Wahrheit sind nicht nur zwei Seiten einer Sache, oder bloß zwei Aspekte eines Sachverhalts sind, sondern vielmehr ein und dasselbe und vor allem der Kern des schwulen Selbstbewusstseins.
Diese Buchbesprechung ist erschienen in der Dezember-Ausgabe der MANNSCHAFT. Hier geht’s zum Abo (Deutschland) – und hier auch (Schweiz)
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