Durch Sex mit einem Mann «wurde ich zu einem Teil des Bürgertums»
«Anleitung ein anderer zu werden» heisst der neue Roman von Édouard Louis
Mit strenger Willensstärke steigt Édouard Louis in die Pariser Elite auf. In seinem neuen Buch beschreibt der französische Literatur-Star seine bekannte Story. Für Bücher über das eigene Leben wird der 29-Jährige schon länger gefeiert – und gerade auch einige andere.
Von Sebastian Fischer, dpa
Hier ist sie wieder: Die Geschichte des jungen schwulen Eddy Bellegueule, der sich aus dem nordfranzösischen, provinziellen, desinteressierten und homophoben Milieu hocharbeitet und als gefeierter Literat und Gesellschaftserklärer Édouard Louis in der Pariser Boheme landet. Der alte Name ist abgelegt, die einst plumpe Aussprache poliert, das Aussehen verschönert. Einfach alles, was an seine soziale Herkunft erinnert, ist abgestreift.
In seinem neuen und erneut aus der eigenen Biografie gespeisten Buch «Anleitung ein anderer zu werden» zeichnet Louis wie schon in den Vorgängerromanen den Weg aus prekären Familienverhältnissen ins intellektuelle Leben eines Bestsellerautoren nach.
Louis zieht den literarischen Stoff aus seinem Leben und unterlegt das Ganze mit einer soziologisch-kritischen Sichtweise. Dieser literarische Ansatz liegt schon länger im Trend – und wurde jüngst mit der Literaturnobelpreis-Auszeichnung von Annie Ernaux, die etwas Ähnliches betreibt, befeuert (MANNSCHAFT berichtete). Auch der Deutsche Buchpreis ging mit «Blutbuch» von Kim de l’Horizon gerade an einen Roman, der sich diesem Verfahren annähert (MANNSCHAFT berichtete). Natürlich ist diese gerade in der Literatur um sich greifende Selbsterkundung am Ende immer noch eine literarische – weswegen diese Art der Schreibens oft als autofiktional bezeichnet wird.
Der 29-jährige Louis sorgte schon mit seinem Debüt «Das Ende von Eddy» vor rund acht Jahren für Furore. Diesmal konzentriert er seinen Text wieder mehr auf sich selbst – anders als etwa noch in «Wer hat meinen Vater umgebracht» (2019) oder «Die Freiheit einer Frau» (2021), in denen er jeweils ins Gespräch mit einem seiner Elternteile tritt.
«Anleitung ein anderer zu werden» ist im engeren Sinne eine Fortschreibung der Kindheit aus «Das Ende von Eddy»: Der jugendliche Protagonist besucht allen Widrigkeiten zum Trotz das Gymnasium in Amiens. Es ist die Flucht vor der Brutalität gegen solche, die anders sind als die anderen, und vor einem Dorfleben in Abhängigkeit, Maloche und Stumpfsinn. In der Grossstadt geht er ins Theater, legt seinen Dialekt ab, übt das Lachen mit geschlossenem Mund. Er kleidet sich besser und lernt, sich wie die Hautevolee zu geben.
«Meine Güte, Eddy, Sie werden ja immer bourgeoiser», wird einmal die Mutter einer Freundin zu ihm sagen. Später ist sie es auch, die ihm einen neuen Namen gibt. «Eddy ist gar kein richtiger Vorname, mir gefällt Édouard besser, das klingt viel eleganter.»
Louis zeichnet in «Anleitung ein anderer zu werden» den unbedingten Willen seines autobiografischen Ich-Erzählers nach, dem einfachen Arbeiter-Schicksal, das ihm das grobe Elternhaus quasi vor die Füsse wirft, aus dem Weg zu gehen. Die einzige Perspektive für einen Feingeist wie ihn ist der Ausbruch. «Ich beschloss, ein neues Leben zu erlernen, allein durch Willenskraft.» Er wird schlussendlich an Frankreichs elitärster Universität in Paris aufgenommen werden.
Der Roman beschreibt die Totalveränderung des jungen Mannes: Dessen sozialer Aufstieg geht einerseits einher mit dem Fleiss, die eigene Vergangenheit hinter sich zu lassen und über die Aneignung von Wissen und Bildung an Macht zu gewinnen. Andererseits zeigt er aber auch die Abhängigkeit von der Gunst höher gestellter Menschen: die befreundete Familie in Amiens, von der er sich die Merkmale einer kultivierten Elite abschaut; die wohlhabenden Sexpartner in Paris, die sich mit dem jungen Mann schmücken und ihn in die High Society einführen.
Louis räumt nebenbei das Märchen ab, allein durch Bildung sei ein gesellschaftliches Emporkommen zu schaffen. Denn es ist genauso eine Frage der Möglichkeiten, der ergriffenen Chancen, der aufgezeigten Wege, der Anerkennungen und des Förderns.
In einer knappen, nüchternen Sprache versteckt der Autor seinen Ich-Erzähler hinter einer Fassade der (Selbst-)Optimierung. Selbst Fragen nach Liebe und Intimitäten stellen sich ihm sozial. «Dadurch, dass ich Sex mit einem Mann hatte, erteilte ich den Wertvorstellungen meiner Klasse eine Absage, wurde ich zu einem Teil des Bürgertums.»
Das Individuum verschwindet. Das einzige Gefühl, das zugelassen wird, ist die Revanche für die Demütigungen. «Ich musste Bücher schreiben und internationale Bekanntheit erlangen, wenn ich mich wirklich für meine Kindheit rächen wollte.» Louis hat ein Buch voller Energie und Wut geschrieben. Spannend dürfte es werden, falls sich der Autor einmal einem anderen Stoff als dem eigenen Leben widmen sollte.
Göttingen und seine queere Stadtgeschichte: «Zeit der vielen Küsse». Ein Projekt über 50-jährige queere Emanzipationsgeschichte (MANNSCHAFT berichtete).
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