Der Pendler – bisexuell und glücklich
Obwohl Stefan immer schon sexuell an Jungs interessiert war, fing er in der zehnten Klasse an, Beziehungen mit Frauen einzugehen
Im Grunde ist jeder Mensch bisexuell, sagte Sigmund Freud. Bisexualität sei neben Hetero- und Homosexualität «die dritte grosse sexuelle Orientierung», kann man auf der Seite bisexuell.net lesen.
Mit fünf Jahren wusste Stefan Hölscher, dass er auf Männer steht. Aber das Umfeld, in dem er in den Sechziger- und Siebzigerjahren aufwuchs, belegte gleichgeschlechtliche Gefühle mit einem Tabu. «Homosexualität war ein absolutes No-Go», erinnert er sich. Zumal er als Schüler das bischöfliche Gymnasium im niedersächsischen Hildesheim besuchte. Ironie des Schicksals: Gegen den Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen wurden später Vorwürfe erhoben, er habe sich an Messdienern vergangen.
Obwohl Stefan immer schon sexuell an Jungs interessiert war, fing er in der zehnten Klasse an, Beziehungen mit Frauen einzugehen. «Die ersten mögen Alibibeziehungen gewesen sein», sagt er, «aber es gab Beziehungen, die waren richtig gut. Besser auch, als ich sie später mit Männern hatte – in punkto Verbundenheit, Vertrauen und gemeinsame Interessen.»
Im Alter von 26 lernte der Managementberater, Trainer und Coach seine heutige Frau kennen, über die er sagt: «Ich würde sie gegen nichts und niemanden eintauschen. Wir lieben uns sehr, und im Laufe der Zeit hat das immer noch mehr zugenommen.» Die Beziehung zu seiner Partnerin empfindet er auch als «sexuell relevant». Männer machen ihn allerdings rein körperlich mehr an. Auf Kontakte mit ihnen will er nicht verzichten. Die findet er auf einschlägigen Datingportalen, hat aber auch langjährige Freunde, mit denen er sich trifft. Seinen «allerbesten Sexpartner» etwa kennt er schon seit über siebzehn Jahren.
Mit seiner Frau führt er eine offene Beziehung: Sie weiss von den Treffen, weiss in der Regel auch, wann ihr Mann bei einem anderen Mann ist, und sie akzeptiert es. «Sie ist sehr selbstbewusst und sehr tolerant», sagt Stefan und klingt dabei ein bisschen stolz. Die beiden haben zwei Söhne im Alter von siebzehn und vierzehn Jahren. Auch die wissen, dass ihr Vater bisexuell ist und seine Männerkontakte nebenher braucht. «Sie haben gelernt, dass das kein Problem für eine Beziehung ist. Sie leiden nicht darunter, ihnen fehlt dadurch nichts.» Auch im Freundeskreis wissen alle Bescheid, negative Reaktionen gab es nicht.
Die Angst, erwischt zu werden Die Gründe, warum viele bisexuelle Männer es vorziehen, sich zu verstecken, seien vielfältig und durchaus nachvollziehbar, findet Stefan. Da sei die Angst, dass man die Partnerin verlieren könnte, weil sie es nicht schafft, sich dieser Herausforderung zu stellen. Viele Bi-Männer hätten auch mit sich selbst ein Problem; sie befürchten, kein «normaler Mann» zu sein, haben Angst davor, wie sie in ihrem Umfeld wahrgenommen werden.
Der bisexuelle Mann – das unbekannte Wesen? In einer nicht-repräsentativen Umfrage des Internetportals bisexuell.net und der Partnervermittlung Gleichklang.de unter bisexuellen Menschen gaben jeweils knapp die Hälfte der befragten Männer und Frauen an, sich von beiden Geschlechtern gleich stark angezogen zu fühlen. Die andere Hälfte der Befragten formulierte eine Vorliebe: Bei Männern dominierte die heterosexuelle Präferenz, wobei 40 Prozent der Männer insgesamt angaben, lieber mit einer Frau als mit einem Mann schlafen zu wollen. Lediglich 16 Prozent der Männer zogen Männer als Sexualpartner vor. Was Beziehungswünsche betrifft, so meinte jeder dritte Mann, sowohl bereit für eine Partnerschaft mit einem Mann wie mit einer Frau zu sein. Über die Hälfte (57 %) der Bi-Männer bevorzugte eine Partnerin. Nur acht Prozent der befragten Männern war eine Beziehung mit einem Mann lieber.
Stefan, so könnte man etwas plump sagen, liegt mit seiner Lebensführung voll im Trend. Was viel wichtiger ist: Man hat hier einen Mann vor sich, der vollkommen mit sich im Reinen ist und in sich zu ruhen scheint. Die offene, fast schon offensive Art, mit der Stefan seine Bisexualität in seinem Umfeld thematisiert, ist beeindruckend – und man hat das Gefühl, dass es auch nur so funktionieren kann.
Bei seinem Coming-out als bisexueller Mann war er Mitte 20. Seither hat er nicht oft Ablehnung erfahren. Wenn doch, dann vor allem in der schwulen Community. Nicht selten findet er beim Online-Cruisen in den Profilen anderer User die Ansage: «Keine Fetten! Keine Tunten! Keine Bi-Männer!» Er findet das legitim. Jeder dürfe entscheiden, mit wem er etwas nicht machen will. Aber natürlich weiss er auch, dass in der Gesellschaft immer noch ein grosses Vorurteil herrscht: «Der ist eigentlich schwul, tut aber nur so als ob. Seine Bisexualität ist doch nur eine Fassade.»
Was andere über ihn diesbezüglich sagen, ist ihm «scheissegal», sagt Stefan – und die Art, wie er es sagt, lässt daran keine Zweifel aufkommen. Ohnehin, erklärt der studierte Philosoph, macht sich jeder das Bild von einem Menschen, das er haben will. Das müsse einem gleichgültig sein, sonst mache man sich abhängig von der Meinung anderer Leute.
Ich habe früher in dieser Entweder-oder-Logik gedacht, dass ich entweder so oder so bin. Ich bin lange hin und her gependelt.
Diese Einstellung musste er sich in einem langjährigen Prozess natürlich erst erarbeiten. Bis er 26 war, quälte er sich. Seine Ängste, denen er sich nicht stellte, verursachten psychosomatische Beschwerden. Er definierte sich lange als schwul, weil er es nicht besser wusste, nicht wissen wollte. Er suchte dringend nach einem Mann fürs Leben – und fand schliesslich seine Frau, mit der seit mittlerweile 26 Jahren zusammen ist. Dass es keine bisexuellen Vorbilder gab, wenn man mal von David Bowie und Inge Meysel absieht, machte es nicht leichter für ihn. Offen schwule Männer fielen einem damals schon eher ein. Also versuchte sich auch Stefan in eine Schublade einzusortieren, um zu wissen, wohin er gehört – entweder empfand er sich als schwuler Mann, oder wenn er Zweifel hatte, als Hetero. Dass es etwas anderes gab, etwas dazwischen, konnte oder wollte er nicht sehen. «Ich habe früher in dieser Entweder-oder-Logik gedacht, dass ich entweder so oder so bin. Ich bin lange hin und her gependelt.»
Das ist natürlich auch eine Sichtweise, die eine Gesellschaft auf den Einzelnen hat. Viele verlangen Eindeutigkeit, erwarten von einem Individuum, dass es sich festlegt: Bist Du Mann oder Frau, hetero oder homo? Der Entschluss, bei dieser streng binären Zuordnung von Sexualität nicht mehr mitzumachen und zu sagen, dass man hetero- und homosexuell sein kann, hat Stefans Leben verändert. Ihn erfüllt heute eine ganz andere Energie, gewonnen aus Partnerschaft, Liebe und erfüllender Sexualität, wie er sagt. «Der Unterschied zu früher ist dramatisch.»
Aber auch in der Gesellschaft bewegt sich was. Viele internationale Stars aus dem Musik- und Filmgeschäft outen sich fast schon beiläufig als bisexuell – Drew Barrymore, Kirsten Stewart, Lady Gaga. Auch in Deutschland: Allein im ersten Halbjahr 2017 haben sich etliche Prominente als bisexuell geoutet: Der Landarzt-Darsteller Walter Plathe, «The Voice Kids»-Jurorin und Nena-Tochter Larissa Kerner sowie Anna Ermakova, Model und Spross des mehrfachen Wimbledon-Siegers Boris Becker. Dass es in der Mehrzahl Frauen sind, die sich als bisexuell outen, scheint darauf hinzudeuten, dass Männer noch immer ein grösseres Problem damit haben. Vielleicht weil bisexuell eben nach wie vor irgendwie schwul ist und «schwul» als beliebtes Schimpfwort auf Schulhöfen und in Fussballstadien nicht aus der Mode kommt.
Während man jahrelang davon ausging, dass sich der Anteil an Schwulen und Lesben irgendwo zwischen 5 und 10 % bewegt (laut Dalia-Studie aus dem Jahr 2016 liegt der Anteil von queeren Menschen europaweit in Deutschland am höchsten, nämlich bei 7,4 %), ist gerade in der jüngeren Generation eine viel grössere Offenheit zu beobachten. Die sogenannten Millennials bezeichnen sich mehrheitlich nicht als heterosexuell, wie die repräsentative YouGov-Studie im Jahr 2015 herausfand: Nur 46 % der Briten zwischen 18 und 26 bezeichneten sich als ausschliesslich heterosexuell. 6 % gaben an, ausschliesslich homosexuell zu sein, während sich 43 % irgendwo dazwischen definierten. Irgendwo dazwischen – das nennen die einen «fluid» oder eben bisexuell.
Immer mehr Menschen lehnen eindeutige Labels wie hetero oder homo ab, glaubt auch Stefan und geht davon aus, dass dieser Trend die Gesellschaft verändert. Viele schauten heute eher auf die Persönlichkeit eines Menschen, wenn sie sich verlieben, nicht auf das Geschlecht. Vielleicht kann man es so ausdrücken: Wer seine Energie nicht mehr darauf verwendet, zwischen zwei Polen zu pendeln und sie als Gegensätze wahrzunehmen, kann sich vollkommen darauf konzentrieren, zu leben und zu lieben. Stefan hat diesen Zustand bereits erreicht.
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