Eurovision Song Contest – Der Erfolg frisst seine Basis

Über das Premium-Pop-Produkt ESC

Ukraine gewinnt den ESC 2022: Kalush Orchestra (Foto: Jens Büttner/dpa)
Ukraine gewinnt den ESC 2022: Kalush Orchestra (Foto: Jens Büttner/dpa)

Schwule Männer haben in allen Ländern den ESC am Leben gehalten, als TV-Funktionär*innen auf dieses Event keinen Pfifferling setzten. Heute wird der Eurovision Song Contest immer professioneller und scheinbar kommerzieller, neu mischt sogar Tiktok mit. Eine Gefahr für den Contest? Dazu unser Kommentar*.

Für die meisten Zuschauenden des 67. Eurovision Song Contest ist nur der Abend des Grand Final interessant: 120 Millionen Leute gucken dann, wer diesen grössten Popwettbewerb der Welt gewinnt und wer sich wo im Ranking der 26. Finalist*innen «unter ferner sangen» wiederfindet. Das ist queere Tradition, dieses Event zu verfolgen, mehr als vier Stunden dauerte die Übertragung im vorigen Jahr aus Turin (MANNSCHAFT berichtete). Allerdings tut sich auch schon in den vielen Wochen und Monaten vor einem ESC jede Menge – nationale Vorentscheidungen, Partys in europäischen Grossstädten wie Barcelona, London, Amsterdam oder im israelischen Tel Aviv.

Mit anderen Worten: Die heisse ESC-Saison währt inzwischen ein halbes Jahr – und man verrät kein Geheimnis, wenn man sagt, dass dies eine fast vollständig schwule Angelegenheit ist, also queer, wie es zeitgenössisch heisst. Schwule Männer haben in allen Ländern den ESC am Leben gehalten, als etwa TV-Funktionäre auf dieses Event keinen Pfifferling setzten – so schlecht beleumundet war der ESC. Was natürlich auch damit zu tun hatte (und teilweise noch hat), dass die Verantwortlichen in den TV-Sendern oder in der Popindustrie meiste selbst heteroorientiert waren (und sind).

Herausgebildet hat sich vor allem seit den frühen 1999er Jahren, als es noch kein Internet, keine Social Media-Plattformen und kein Youtube (wo alle ESCs konserviert vorrätig zu sehen sind) und sowieso nur Papierzeitungen gab, eine Fankultur des ESC, eine vieltausendfache Crowd an Partybiestern und Expert*innen bis in die allerletzten Vorentscheidungsrunden der 1960er Jahre.

Inzwischen aber hat sich der ESC weiterentwickelt, und dies eben seit Erfindung der neuen Medienformen. Der Contest ist zu einem lohnenden, kommerziell gemeint, Projekt geworden – auch das erst eine Entwicklung, die vor gut 20 Jahren einsetzte, als CDs mit den Liedern eines Jahrgangs publiziert (und verkauft) wurden. ESC-Fans aber, die seit dem ESC 1998 in Birmingham – als Dana International gewann und der Deutsche Guildo Horn erklärte, er habe uns alle lieb – auch als Faktor der Popularisierung in die ersten Reihen der Halle gesetzt wurden und erstmals stimmungsaufhellend als Fans freundlichen Rabatz machten, waren immer näher dabei.

1992, als ich als Journalist meinen ersten ESC besuchte und über diesen berichtete, war es Journalist*innen noch möglich, die Bühne in der Malmöer Eishalle zu betreten, fast immer. Mit den Künstler*innen gab es keine Pressekonferenzen, weil man sich ohnehin dauernd in den Gängen der Halle traf. Wenige Jahre später war es mit diesem Umstand vorbei, es gab nun echte Pressekonferenzen, und zwar aller Teilnehmer*innen. Fans, die sich als Journalist*innen akkreditieren, stellten teils unprofessionelle Fragen, die als Statements daherkommen («Ich finde Sie toll» – so zu einer Teilnehmerin: Als ob das nicht ein No-Go wäre.), aber egal: Die Nähe zu allen Künstler*innen war gewahrt.

Seit gut zehn Jahren hat sich das wiederum geändert, durchaus zum Nachteil der Fans. Pressekonferenzen gibt es nur noch eine pro Künstler*in, gefilmt werden darf nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, alle ist sehr stromlinienförmig geworden, quasi industriell: Der Charme der grössten Nähe inklusive aller Peinlichkeiten war weg. Für die European Broadcasting Union war und ist das ohnehin kein Ding politischer oder kultureller Wichtigkeit, sondern eine internationale Show, die kompliziert zu produzieren ist, weil erst acht Wochen vor der Übertraung die Line-Ups feststehen.

Jetzt wird es noch professioneller, und das macht die Fanszene nervöser denn je: Wie im Fan-Forum ESC-Kompakt zu lesen steht, hat sich Tiktok einen erheblichen Teil der Wiederverwertungsrechte am ESC gesichert – und zwar gerade im Hinblick auf den Stoff, auf den die Fans (mit ihren kleinen Radiostationen, Websites etc.) so erpicht sind. Klar: Diese Social-Media-Macht namens Tiktok trägt massiv zu einer weiteren, beinah globalen Popularisierung des ESC und seiner Künstler*innen bei. Aber seine Federführung zu dem, was beim ESC zu filmen und zu fotografieren erlaubt ist, räumt die Fans ein fühlbares Stück zur Seite.

Tiktok ist indes nur ein weiterer Schritt, den ESC zum Premium-Pop-Produkt zu machen: Die Performances, die bei einem ESC dargeboten werden, lohnen im Herstellungsaufwand nur noch, wenn ein Partner wie Tiktok für die Verbreitung mit sorgt. Man könnte sagen: Der Erfolg des ESC, für den seine Fans seit Jahrzehnten trommelten und dies eben auch heute gern tun würden, frisst seine Kinder, eben diese Fans. Der ESC erinnert strukturell in jeder Hinsicht an ESCs der frühen sechziger Jahren, als die TV-Technik noch wie aus der Steinzeit erbracht wirkte. Aber ästhetisch und vom Vorbereitungsaufwand her ist alles im Vergleich mit früher gigantomanisch.

Die Live-Orchester von einst sind seit Ende der 90er endgültig Geschichte, weil Liveorchester Fehler machen könnten – und das sollen sie nicht, also wurden sie eliminiert. Bis auf Vokalpartien, die Stimmen kommt jetzt alles modern vom Band: Und auch hier gibt es schon Überlegungen, befördert durch Schweden, wo die europäisch stärkste Popindustrie sitzt, nur noch Playback singen zu lassen. (Wobei die Mikrofone schon seit Jahren so getunt sind, dass falsche Töne unmittelbar herausgefiltert werden.)

Wäre das der Tod des ESC, zu dessen Charme das gewisse Unfertige und Unperfekte gehörte, immer? Ich denke: nein. Der ESC lebt, in welchen modernen Zeiten auch immer. Es wird alles nur ein wenig perfekter. Tiktok gehört dazu – an der Macht der Popindustrie führt kein Weg vorbei. Schade ist es trotzdem: Ich vermisse diese gewisse Unmodernität – und auch die Zeiten, als der ESC noch ein queeres Graswurzelding von schwulen Eurovisionsfans und ihren Freund*innen war.

Schluss für ESC-Urgestein Peter Urban: Der diesjährige Eurovision Song Contest wird für den Hamburger Journalisten der letzte sein (MANNSCHAFT berichtete).

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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