Der Emanzipator: Martin Dannecker wird 75
Andere kriegen zum Geburtstag warme Socken, der Sexualwissenschaftler und Schwulenaktivist Martin Dannecker bekommt eine Ausstellung: „Faszination Sex“ wurde kürzlich im Schwulen Museum* Berlin eröffnet. Am Mittwoch nun wird Dannecker 75.
Als „intellektuell“ und „kämpferisch“ feiert ihn seine Kuratorin Patsy l’Amour laLove, als einen – in den 1960er Jahren – homosexuellen Mann „neuen Typs“. Damals schloss er sich in seinem extravaganten Lackmantel der Studentenbewegung an. Ja, der Lackmantel. „Ich war immer zu elegant und zu schön angezogen“, sagt er in einem Video-Interview mit Patsy. Und: „Ich habe nie einen Gewinn daraus ziehen können, dass man scheiße angezogen ist.“
1971 erschien Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, an dessen Drehbuch Dannecker mitwirkte. Das Zitat „Die romantische Liebe ist nichts anderes als extreme Selbstliebe“ stammt neben vielen anderen von ihm. Die WDR-Produktion gilt als Initialzündung für die radikale schwule Emanzipationsbewegung.
Am Morgen nach der Ausstrahlung, das hat er der taz mal erzählt, rief sein empörter Vater ihn an. „Er sagte mir, dass meine Mutter nicht mehr einkaufen gehen könne aus lauter Scham.“
Aus einer Bauernfamilie im Schwarzwald stammend, ging Dannecker mit 13 von der Schule ab und begann 1956 eine Ausbilung zum Industriekaufmann. Bevor er in Frankfurt am Main zum schwulen Aktivisten wurde, ließ er sich noch in Stuttgart zum Schauspieler ausbilden. Danach kam Frankfurt, wo er Philosophie, Soziologie und Psychoanalyse studierte und die homosexuelle Emanzipationsgruppe „Rote Zelle Schwul“ mitbegründete, kurz: RotZSchwul.
1974 erschien „Der gewöhnliche Homosexuelle“, die große Studie, an der er viele Jahre mit Reimut Reiche gearbeitet hatte. „Die erste Untersuchung, die den gesamten Lebenszusammenhang Homosexueller in den Blick nimmt und den Zusammenhang von individuellem Triebschicksal Homosexueller und dem sozialen Zwang, dem sie ausgesetzt sind, im einzelnen aufzeigt“, heißt es im Klappentext. Wer schwul war oder es ahnte, der las damals dieses Buch.
Ab 1977 prägte er in Frankfurt bei Volkmar Sigusch die progressiven Sexualwissenschaften, der die Sexualmedizin als eigenständigen Wissenschaftsbereich etabliert hatte.
In den 80ern engagierte sich Dannecker in vielen aufreibenden AIDS-Debatten. Seine Thesen waren nicht unumstritten. So attackierte er die damals aufkommenden Debatten über Safer Sex oder gar Forderungen nach Enthaltsamkeit. Während Rosa von Praunheim Schwule aufforderte, von ihrem promiskuitiven Verhalten zu lassen, setzte sich Dannecker für gelebte Sexualität ein. Ungeschützten Geschlechtsverkehr moralisch abwerten lassen – dagegen wehrte er sich. Über den bewussten Verzicht auf das Kondom bei homosexuellen Männern schrieb er vor 10 Jahren für hivandmore.de: „Diese Phänomene müssen vorurteilsfrei analysiert und diskutiert werden. Eine Prävention, die zur Diktatur der Gesundheit und normativer Vorstellungen der sexuellen Lebensführung wird, ist inhuman.“
Mit seinen Thesen schonte Dannecker weder Gesundheitspolitiker noch Aidshilfen, die gezwungen waren, ihre Ansätze zur Prävention immer wieder zu überdenken. Heute danken sie es ihm und machten ihn Ende 2016 zum Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe.
Noch bis Ende 2005 lehrte der Träger der „Kompassnadel“, des Ehrenpreises des Schwulen Netzwerks NRW, am Institut für Sexualwissenschaft des Klinikums der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lebt seither in Berlin, wo er über Internetsexualität forscht.
Der leidenschaftliche Raucher gilt als der wohl bedeutendste deutsche Theoretiker zur Homosexualität der Nachkriegszeit. Alles Gute zum Geburtstag!
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