«Casta Diva»: Der erste schwule Opernführer der Welt
Was zieht Schwule so magisch zur Oper und zu tragisch leidenden Opernheldinnen? Das wollen Rainer Falk und Sven Limbeck in ihrem neuen Buch ergründen
Rainer Falk vom Fontane-Archiv in Potsdam und Sven Limbeck von der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel haben zusammen mit dem Querverlag den ersten explizit «schwulen» Opernführer der Welt herausgegeben – 26 Jahre nach Wayne Koestenbaums bahnbrechendem Buch «The Queen’s Throat: Opera, Homosexuality and the Mystery of Desire». MANNSCHAFT sprach mit den Herausgebern über ihr Projekt, das gerade bei der Frankfurter Buchmesser vorgestellt wurde.
Das Grusswort zu «Casta Diva» hat Regisseur Barrie Kosky geschrieben, der mit seiner explizit und lustvoll ausgelebten schwulen Ästhetik an der Komischen Oper Berlin zum Darling der Hauptstadt-Hipster geworden ist – gleichzeitig wird er deswegen auch stark angefeindet, u.a. von schwulen Opernkritikern. Ist das eine Form von Selbsthass? Und bei den heterosexuellen Kollegen eine Form von Homophobie? Sind sie mit so viel Sinnlichkeit im subventionierten Hochkulturbetrieb überfordert? Ist das der lange Schatten von Adorno? Dass bestimmte ästhetische, politische und sonstige Entscheidungen ein Für und Wider auslösen, ist eigentlich normal und gut. Woran wir derzeit leiden, ist ein viel allgemeineres Problem: die Unfähigkeit zu debattieren, sich auf kontroverse Positionen einzulassen, Argumente auszutauschen und Widersprüche zu akzeptieren und auszuhalten. Es geht immer nur darum, was man darf und was nicht. Gefährlich dabei ist, dass vor allem im politischen, aber zunehmend auch im ästhetischen Diskurs Gender, sexuelle Orientierung und andere Differenzen zu Symbolthemen werden: Wie tief gesunken ist die politische Kultur Europas, wenn beispielsweise die PiS in Polen mit einem Wahlkampf gegen die «Regenbogenseuche» Riesenerfolge einfährt? Das ist das Problem und nicht, ob ein schwuler oder heterosexueller Kritiker ein Problem mit Barrie Kosky hat … Richtig verstanden, ist Oper aber eine gute Schule in Ambivalenz, die uns stark machen kann gegen die grossen Vereinfacher. Würde Adorno da widersprechen?
Mit «Casta Diva» habt ihr den ersten schwulen Opernführer überhaupt veröffentlicht. Was bedeutet «schwul» dabei – bezieht es sich auf eure Autoren, die Inhalte der behandelten Werke, die anvisierte Leserschaft, die Musik oder Komponisten? Na, auf alles natürlich! – Im Ernst: Bekanntlich sind überdurchschnittlich viele schwule Männer passionierte Operngänger. Unsere Idee war es, für dieses Stammpublikum des Musiktheaterbetriebs erstmals ein eigenes Lexikon herauszugeben. Das hat natürlich unsere Auswahl der behandelten Komponisten und Werke bestimmt – und mehr noch die Auswahl dessen, was über die Komponisten und Werke in den Artikeln des Opernführers zu lesen ist. Dass die überwiegende Zahl derer, die wir für die Mitarbeit an «Casta Diva» begeistern konnten, ihrerseits schwule Männer sind, versteht sich vermutlich von selbst.
Euer Buch ist immerhin im Querverlag erschienen, Deutschlands erstem lesbisch-schwulen Verlag. Warum habt ihr keinen «queeren» Opernführer herausgegeben? Was ist mit dem Rest von LGBTIQ? Wir haben uns schon früh in den Planungen und im Einvernehmen mit dem Verlag ganz bewusst für eine schwule – also nicht queere, lesbisch-schwule oder andere – Perspektive entschieden. Diese schwule Perspektive schliesst für uns selbstverständlich lesbische, queere und transgender Aspekte mit ein, was die Beiträge der verschiedenen Autor*innen gewiss deutlich machen. Unser Ziel konnte aber nicht ein ausgewogener genderpolitischer Proporz sein, weil das mit dem gespielten Repertoire nicht möglich gewesen wäre. Stattdessen versuchen wir die Konventionen mit unseren Kommentaren zu hinterfragen und aufzubrechen.
Das bringt die November-Ausgabe der MANNSCHAFT!
Es gibt ja recht viele Bücher zu schwulen Männern und ihrer Liebe zum Showbusiness. Aber zu Lesben mit ihren ganz anderen Vorlieben im Bereich Oper gibt es sehr wenige Publikationen. Woran liegt es, dass Lesben selbst dazu nicht mehr veröffentlichen? Fehlt ihnen der Hang zur Selbstdarstellung? Haben sie keinen «Zugang zu Ressourcen»? Haben sie keine Zeit, weil sie schlechter bezahlt werden als Männer? Schreien sie nur «mehr lesbische Sichtbarkeit», tun aber nichts dafür? Die Debatte führen wir wohl schon seit mindestens 30 Jahren. Machen wir uns nichts vor: Wir leben bei allen Fortschritten in einer heteronormativen Gesellschaft. Das gesellschaftliche Interesse richtet sich auf Männer. Lesbische Frauen haben von den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte vergleichsweise weniger profitiert als schwule Männer, was Sichtbarkeit, Repräsentanz und Beteiligung in Kultur, Medien, Politik etc. angeht. Immerhin ist, was Oper betrifft, mittlerweile an den Dirigentenpulten die totale männliche Herrschaft gebrochen: Wir erleben in jüngeren Jahren immer mehr Kapellmeisterinnen und sogar einige weibliche GMD – daran haben auch Lesben einen gewichtigen Anteil.
Tatsächlich haben wir bei der Ankündigung von «Casta Diva» als schwulem Opernführer einen Mini-Shitstorm erlebt: Was das denn soll, dass das nicht auch ein lesbischer Opernführer ist? Und warum da Lesben ausgeschlossen werden? Davon kann keine Rede sein. Erstens haben wir Lesben und lesbische Sichtweisen berücksichtigt. Aber wir sind nun mal zwei schwule Männer und können dem Anspruch auf schwul-lesbische Ausgewogenheit nicht ernsthaft gerecht werden. Zweitens bedeutet, das eine zu tun, nicht, das andere zu lassen. Wir wünschen uns, dass Lesben nun Fraus genug sind, einen lesbischen Opernführer zu konzipieren und zu schaffen. Wir wären begierige Leser!
Habt ihr mit Lesben über deren Opernvorlieben gesprochen? Kommt das Thema Trans in eurem Buch vor, zum Beispiel erste Trans-Diven wie Lucia Lucas? Ja, klar, wir haben auch lesbische Autorinnen gewonnen. Wir gehen als schwule Männer ja auch mit unseren lesbischen Freundinnen gemeinsam in die Oper und tauschen uns aus und geraten gemeinsam ins Schwärmen. Der Mezzo ist ein grosses Thema – allein schon die Erwähnung von Brigitte Fassbaender löst bei Lesben Wogen der Begeisterung aus. Da gibt es eine Menge Berührungspunkte, wo sich lesbische und schwule Opernfans treffen können.
Man kann Opernlesben z.B. auch mit YouTube-Links von Uralt-Aufnahmen mit Ebe Stignani oder Fiorenza Cossotto in Ekstase versetzen.
Lucia Lucas ist ein grossartiges und ermutigendes Vorbild für junge Transgender – aber «Diva» hat immer auch etwas Phantasmatisches, der Begriff ist hier nicht angemessen. Auch wenn sich die ENO das jetzt auf die Fahnen schreibt, beglückwünschen wir die Badische Staatsoper Karlsruhe zu ihrem ehemaligen Ensemblemitglied! Das hat wirklich Geschichte gemacht. Interessant ist doch, dass Lucia Lucas etwas verkörpert, was in der Oper als Spiel immer schon möglich war. Diese Konsequenz zeigt ein bisschen von der gesellschaftspolitischen Relevanz der Oper.
Geschlechtliche Ambivalenz spielt in der Operngeschichte schon seit ihren Anfängen eine wichtige Rolle – auf der dramaturgischen Ebene etwa durch die Praxis der gegengeschlechtlichen Rollenbesetzung: Die Partien sehr junger Männer wurden oft als Hosenrollen für Mezzosopranistinnen komponiert; man denke an Cherubino in Mozarts «Le nozze di Figaro». Umgekehrt (wenn auch nicht ganz so häufig) übernahmen Tenöre die Partien alternder Frauen als Kittelrollen. Hinzu kommt die lange Zeit bestehende Notwendigkeit, die für Kastraten geschriebenen Rollen von Frauen singen und spielen zu lassen. Und schliesslich gibt es eine Vielzahl an Opern, in denen es ganz einfach die Handlung mit sich bringt, dass Männer sich als Frauen verkleiden, in die sich dann Männer verlieben (wie Baron Ochs in den verkleideten Octavian in Richard Strauss’ «Der Rosenkavalier») – und umgekehrt. Das alles hat unsere Autor*innen und uns natürlich sehr interessiert. Aber da wir einen Opernführer und kein Buch über Opernfans gemacht haben, kommt das eher auf der Werkebene vor.
Ihr habt euer Buch wie ein Lexikon angelegt: Welche Stücke wurden aufgenommen und nach welchen Kriterien habt ihr ausgewählt? Warum einen so «formellen» Ansatz, statt das Ganze «persönlicher» zu machen? War euch «Seriosität» wichtig – und falls ja, warum? Formale Vorgaben, Struktur, Qualitätskriterien einerseits und ein persönlicher, durchaus subjektiver Zugang zu einem Werk oder Komponisten sind für uns überhaupt kein Gegensatz. Die lexikalische Form hat ja rein pragmatische Gründe und ist gewissermassen dem Genre Opernführer geschuldet. Was wir wollten, ist ein Buch, das man vor oder nach dem Opernbesuch konsultieren kann: Was kommt da vor, wie ist die Musik usw.? Und was hat z.B. dieses Werk über eine an Schwindsucht sterbende Frau mir als schwulem Mann zu sagen? Letzteres ist es, was «Casta Diva» von herkömmlichen Opernführern unterscheidet. Und beim Spielen mit Deutungen und ihrer jeweiligen Herleitung haben wir uns und den Autor*innen keinerlei Schranken auferlegt. Psychoanalytische Ansätze kommen genauso vor wie streng musikästhetische. Wichtig war uns, dass alles Behauptete dokumentierbar ist und dass auch subjektive Deutungen für unsere Leser*innen plausibel und nachvollziehbar sind – auch dann, wenn sie von der ursprünglichen Werkintention abweichen. Anders hätte ein schwuler Opernführer auch gar nicht funktioniert.
Dem Genre Opernführer geschuldet ist auch, dass die rund 150 Opern, zu denen Artikel in «Casta Diva» zu finden sind, das Repertoire der Gegenwart abbilden. Wären ausschliesslich die schwulen Inhalte von Opern unser Auswahlkriterium gewesen, wäre ein völlig anderes Buch entstanden, das v.a. Werke des 20. und 21. Jahrhunderts enthalten hätte. Das wäre dann eher ein «Kabinettschränkchen» geworden – spannend, aber ohne praktischen «Nährwert». Uns war hingegen wichtig, dass die Leser*innen die Chance haben sollten, jedes Werk in irgendeiner Form kennenzulernen, sei es, weil es mehr oder weniger regelmässig auf dem Spielplan steht, sei es, weil es zumindest eine Einspielung gibt. Gleichwohl haben wir auch Akzente gesetzt und das Repertoire gewissermassen erweitert: «Brokeback Mountain» von Charles Wuorinen durfte z.B. nicht fehlen und Michael Tippett sollte vertreten sein. Er ist neben Britten der wichtigste schwule Komponist in England gewesen, aber seine Opern werden – zumal auf dem Festland – wenig gespielt.
Gerade bei historischen Persönlichkeiten ist es sehr schwer, LGBTIQ-Aspekte zu belegen, weil diese meist nur dann dokumentiert sind, wenn es zu Strafverfahren kam. Man ist also auf Spekulationen und Gerüchte angewiesen. Wie seid ihr damit umgegangen? Wie gesagt: Was man behauptet, sollte man belegen können. Die allermeisten der in «Casta Diva» vertretenen Komponisten waren einfach nicht schwul. Aber wir fanden es spannend herauszufinden, was es im Leben von bekennend heterosexuellen Opernkomponisten an manifest Schwulem oder latent Homoerotischem zu entdecken gibt. Selbst ein stockheterosexueller Tondichter wie Richard Strauss hatte seine wichtigste künstlerische Lebensbeziehung zu der Klemmschwester Hugo von Hofmannsthal. Und von dem schönen Frauenliebling Vincenzo Bellini gibt es eine neuere Biographie, in der eine intime Beziehung des Komponisten zu seinem Freund Francesco Florimo zumindest vermutet wird. Entstanden sind auf diese Weise Komponistenbiographien, die so in keinem anderen Opernführer zu finden sein dürften. Und schliesslich haben wir keine musikwissenschaftliche Enzyklopädie à la MGG [«Die Musik in Geschichte und Gegenwart»] angestrebt! Wie langweilig wäre ein schwules Buch ohne Gossip geworden? Das ist eine Frage der Darstellung: Fakt ist Fakt und Gossip ist Gossip. Unsere Autor*innen haben das ganz gut unterschieden, aber beides kommt zu seinem Recht.
«Shooting Star» – Romantisches Musical über die schwule Pornoindustrie?
Wer sind eure Mitstreiter, also die Autoren des Buchs? Zum Teil haben die 31 Autorinnen und Autoren, die wir zur Mitarbeit gewinnen konnten, in Journalismus, Dramaturgie oder Wissenschaft professionell mit dem Musiktheater zu tun. Zum Teil stammen sie aber auch aus ganz anderen Bereichen. Gerade bei Letzteren handelt es sich in der Mehrzahl um Leute, die wir aus anderen Zusammenhängen kannten und von denen wir wussten, dass sie leidenschaftlich gerne in die Oper gehen. Die haben wir dann einfach aufgefordert, sich doch mal an einem Artikel zu versuchen. Die Vielzahl an Perspektiven und Herangehensweisen, die auf diese Weise zusammengekommen ist, stellt unserer Ansicht nach einen grossen Vorzug von «Casta Diva» dar.
Geht es auch um knallharten Sex und Oper-als-Porno, etwa die Opernpornofilme von Lucas Kazan? Seht ihr eine Verbindung zwischen der Nähe der Schwulenkultur zu Pornografie und Musiktheater? Interessiert haben uns auch Rezeptionsphänomene. Insofern werden in «Casta Diva» die Opernpornos von Lucas Kazan erwähnt. Aber uns geht es mehr um die Psychologie des Begehrens und auf dieser Ebene haben Schwule womöglich schon länger als Heteros ein eher unverkrampftes Verhältnis zur «Schau-Lust». Dass Pornographie die Hochkultur parodiert, ist ansonsten nichts Neues und lässt unserer Meinung nach kaum auf eine besonders enge Beziehung zwischen Porno und Oper schliessen.
Das Buch wurde bei der Frankfurter Buchmesse vorgestellt: Was für Reaktionen habt ihr bekommen? Überhaupt, wie waren die Reaktionen aus eurem persönlichen und beruflichen Umfeld zu dem Projekt? Ist so etwas in Deutschland karriereschädlich oder förderlich? Erfreulicherweise müssen wir uns beide um Karriere-Erwägungen nicht kümmern und haben unser Projekt zwar in der Freizeit realisiert, in unserem beruflichen Umfeld – jeweils Kultureinrichtungen – aber sehr viel Unterstützung erhalten. Insgesamt waren die Reaktionen weit überwiegend positiv bis begeistert, und zwar ziemlich unabhängig von der sexuellen Orientierung.
Eher unschön waren die Kommentare von Leuten, die von vornherein wussten, dass ein schwuler Opernführer ein «überflüssiger Schwachsinn» wäre, die uns unterstellten, wir würden damit das Klischee bedienen, dass alle Schwulen Kulturtunten sind, oder die gar die Gefahr witterten, dass wir mit dem Anspruch, «etwas Besonderes zu sein», die Diskriminierung von Homosexuellen aktiv fortführten. Dass wir «Casta Diva» einfach aus Leidenschaft und Spass an der Sache gemacht haben, kam nicht allen in den Sinn. Auch nicht, dass unser Buch ein Angebot ist, dass man auch ausschlagen darf …
Es gibt seit Ewigkeiten das Klischeebild der klassisch-kultivierten «Operntunte» oder «Kulturhusche». Rosa von Praunheim nimmt sie ins Visier in «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt» und kritisiert ihre unpolitische, anti-aktivistische Haltung. Terrence McNally hat ihnen mit «The Lisbon Traviata» ein Theaterstück gewidmet, Wayne Koestenbaum hat versucht in «The Queen’s Throat» das Thema philosophisch anzugehen. Wie erklärt ihr euch die spezielle Verbindung zwischen Schwulenkultur und Opernwelt? Rosa von Praunheim hat uns gerade für eine neue Doku über Schwule und Oper interviewt und der marxistisch grundierte Kommentar zu «Nicht der Homosexuelle …» vor nunmehr fast 50 Jahren war auch damals schon eine bewusste Provokation, die man nicht ganz wörtlich nehmen darf. Dass sich schwule Männer im Vergleich zu heterosexuellen durch einen höheren Kulturkonsum hervortun, ist nicht nur für unvoreingenommene Besucher*innen von Theatern, Museen und anderen Einrichtungen unstrittig, sondern auch soziologisch untersucht. Unsere eigene Analyse geht in die Richtung, dass Schwule durch den Besuch kultureller Veranstaltungen ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft manifestieren und sozusagen soziales Prestige in Form «kulturellen Kapitals» ansammeln.
Laut Koestenbaum hat sich die klassische Operntunte nach Stonewall und Gay Liberation überlebt, weil sie jetzt offen ihr Begehren ausleben kann und dies nicht mehr im Geheimen über die Stimme einer vergötterten Diva tun muss. Trotzdem ist scheinbar eine junge Generation von Operntunten nachgewachsen. Wie erklärt ihr euch das? Dadurch, dass Schwule in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, gerät aus dem Blick, dass damit noch nicht alles gewonnen ist. Die alten Geschlechterbilder, von ganz neuer Homophobie mal ganz abgesehen, leben fort und prägen die Biographien von Kindern und Jugendlichen, die irgendwie nicht ins Bild passen und von denen einige irgendwann ihr Coming-out haben werden. Auch ohne die offene gesellschaftliche Diskriminierung sind viele schwule Biographien eine Ansammlung kleiner Verletzungen. Diese Sensibilisierung für den Gesang der Göttinnen funktioniert heute noch genauso wie das Gefühlskraftwerk Oper an sich. Oder hat irgendjemand den Eindruck, dass wir tatsächlich in einer paradiesischen Gesellschaft leben?
Das Buch von Wayne Koestenbaum wurde in den frühen 1990er-Jahren veröffentlicht, in den USA gibt es stapelweise Bücher zum Thema. Warum kommt euer Opernführer erst jetzt in Deutschland raus – was hat so lange gedauert, dass die Deutschen das Thema in grösserem Umfang angehen? Das Buch von Koestenbaum sagt auf hunderten von Seiten nichts über Opern an sich oder über Homosexualität und Oper! Wir haben die musikwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Literatur im Vorfeld ziemlich ausgiebig gesichtet und haben nur einen ziemlich niedrigen Stapel zusammengekriegt. Es wird viel über Queerness, Musik und popular culture geschrieben (z.B. jetzt «David Bowie Made Me Gay» usw.), aber ein schwuler Opernführer ist auch in den USA noch nicht erschienen. Tatsache ist, dass in den USA Gender Studies und – in der Folge – Queer Studies an den Universitäten deutlich etablierter sind als in Europa. Das hat wiederum zur Folge, dass da mehr Bücher für einen grösseren Markt produziert werden und dass auch die Studierenden, die Qualifikationsarbeiten schreiben, näher an diesen Fragen dran sind.
Warum erst jetzt? Das hat wohl wirklich damit zu tun, dass es eine private Initiative ist, die unabhängig und ausserhalb von akademischen Projektförderkontexten angesiedelt ist. Wir haben über die Idee seit mindestens zehn, zwölf Jahren geredet – immer auch schon mit dem Verlag – und dann gab es den Augenblick, wo wir angefangen haben, Probeartikel zu schreiben, Autor*innen einzuladen, mit dem Verlag einen Erscheinungstermin festzulegen – und dann gab’s kein Zurück mehr.
Was für Veränderungen habt ihr da in den letzten Jahren beobachtet im Umgang mit Homosexualität und Oper/Musiktheater? Nennen wir es: vom schweigenden Einverständnis zur offenen Allianz. Auch die staatlich subventionierten Bühnen haben sich seit den 1970er-Jahren mit einem gesellschaftspolitischen Engagement für Homosexualität aus dem Fenster gelehnt, aber gerade die Oper war mit offenem Bekenntnis und offener Thematisierung zurückhaltend. Das Opernpublikum war und ist – anders als das Schauspielpublikum – überwiegend eher traditionell und konservativ eingestellt und ändert sich ungefähr in dem Masse wie die CDU das seit dem Ende von Helmut Kohl getan hat. Dass sich grosse Häuser nunmehr mit ihrem Spielplan offensiv an ihr schwules Publikum wenden, ist neu – und führt mitunter zu so künstlerisch fragwürdigen Ergebnissen wie «Edward II.» von Andrea Lorenzo Scartazzini an der Deutschen Oper Berlin. Oper lebt wie alle Kunst von Subtilität und Ambivalenz und das bestimmt auch das Verhältnis von Schwulen zur Oper.
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