«Ich muss mich nicht mehr über die Meinung anderer definieren»
Xavier Dolan über seinen neuesten Film «Matthias & Maxime», der Anfang November in die deutschen Kinos kommt
Zwei beste Freunde müssen sich für einen Kurzfilm küssen und verstehen danach die Welt nicht mehr. Die Handlung des neuen Films «Matthias & Maxime» spielt nicht zwischen zwei Teenagern, sondern zwischen zwei Endzwanzigern, die mitten im Leben stehen. Regisseur und Protagonist Xavier Dolan über harsche Filmkritiken und Britney Spears als Filmmusik.
Monsieur Dolan, macht es einen Unterschied, ob Sie für jemand anderen als Schauspieler im Einsatz sind oder in einem Film von Ihnen selbst, so wie nun bei «Matthias & Maxime»? Hm, gute Frage. So oft war es jetzt ja noch nicht, dass mich andere Leute inszeniert haben, aber mit einigen war die Arbeit wirklich grossartig. Natürlich bin ich im Kopf freier und offener, wenn ich nicht parallel damit beschäftigt bin, über die Regie nachzudenken. Allerdings hatte ich noch nie in meinem Leben das Gefühl, als Schauspieler nicht alles gegeben zu haben, nur weil ich gleichzeitig auch inszeniert habe.
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Sie galten lange als das Wunderkind des internationalen Kinos, inzwischen sind Sie allerdings auch schon über 30. Nicht dass man Ihnen das ansieht . . . Oh, danke. Das Interview fängt ja gut an, gefällt mir. Aber was soll ich sagen? Ich pflege meine Haut, darüber hinaus habe ich kein Geheimrezept gegen das Altern.
Tritt man Ihnen zu nahe, wenn man Sie als eitel bezeichnet? Nein, natürlich ist es mir wichtig, wie ich aussehe. Und wie ich mich ansehe. Ich fand mich mein Leben lang zu klein, das ist ein riesiger Komplex von mir. Deswegen wollte ich immer wenigstens gut aussehen (lacht). Und das hat nichts mit meiner Arbeit als Schauspieler zu tun, auch wenn man natürlich nicht leugnen kann, dass Jugend und gutes Aussehen für die Menschen, die darüber entscheiden, welche Filme überhaupt gedreht werden, eine wahnsinnig grosse Rolle spielen.
Sie standen schon als Kind vor der Kamera und natürlich immer wieder auch in einigen Ihrer eigenen Regiearbeiten. Zuletzt haben Sie aber häufiger auch mit anderen Regisseuren zusammengearbeitet und waren etwa in Joel Edgertons «Der verlorene Sohn – Boy Erased» (MANNSCHAFT berichtete), in «Bad Times at the El Royale» oder der Horror-Fortsetzung «Es Kapitel 2» zu sehen. Wie kommt’s? Es war immer mein Plan, in meinen Dreissigern wieder mehr als Schauspieler zu arbeiten. Darauf hatte ich einfach grosse Lust. Ich finde das Spielen irgendwie dankbarer und befreiender als selber Filme zu inszenieren.
Sind Sie mit sich selbst ein strenger Regisseur? Ich gehe mit mir selbst extrem hart ins Gericht, keine Frage. Es kommt oft genug vor, dass ich als Regisseur hasse, was ich als Schauspieler gemacht habe. Aber genauso bin ich auch in der Lage, meine eigene Arbeit zu lieben. Es gibt ja Schauspieler*innen, die wollen ihre eigene Arbeit gar nicht sehen. Ich dagegen kann gar nicht anders. Ich muss sofort gegenchecken, wie das durch die Kamera wirkt, wie das Licht sitzt und welche Position am besten ist. Denn all das macht ja aus, wie die Sache nachher auf der Leinwand wirkt.
Viele Kolleg*innen sagen, sie müssen sich komplett fallen lassen und verlieren, um schauspielerisch wirklich zu überzeugen. Bei mir ist das Gegenteil der Fall: Erst wenn ich die komplette Kontrolle habe, fühle ich mich frei. Das einzige, was ich nicht kontrollieren kann, sind die Menschen, mit denen ich vor der Kamera stehe. Aber das ist natürlich gut so, denn zumindest ein Teil muss spontan bleiben.
Apropos Kontrolle: In «Matthias & Maxime» gibt es enorm viele Gruppenszenen, mit wild durcheinander sprechenden Menschen. Ist selbst da nichts dem Zufall überlassen? Das sind tatsächlich ewig lange, komplex zu drehende Szenen, die sich oft über mehrere Tage hinziehen. Als Regisseur finde ich die echt mühsam. Aber als Schauspieler liebe ich sie: So viel Text, so viele Schauspieler*innen, das macht echt Spass. Allerdings ist natürlich bis ins kleinste Detail alles im Drehbuch festgehalten, da ist nichts improvisiert. Im Fall von «Matthias & Maxime» war das eine Gemeinschaftsarbeit mit den anderen Schauspielenden, die fast alle enge Freund*innen von mir sind.
Improvisieren wäre nichts für mich, höchstens in kleinsten Details.
Wie sah die aus? Ich habe das Drehbuch geschrieben, dann haben wir uns zu Proben getroffen und basierend auf dem, was wir da entwickelt haben, habe ich das Drehbuch umgeschrieben. Anschliessend haben wir das Ganze noch einmal wiederholt. So wurden die Szenen und Dialoge so natürlich und flüssig, dass mich nun die Leute fragen, ob wir improvisiert haben. Aber wie gesagt: Improvisieren wäre nichts für mich, höchstens in kleinsten Details. Ansonsten sind Vorbereitung und Kontrolle besser (lacht).
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Die beiden Titelhelden des Films, gespielt von Ihnen und Gabriel D’Almeida Freitas, sind beste Freunde, bis ein Kuss alles verändert. Vergleichbare Geschichten werden sonst meist eher mit Teenagern erzählt . . . Stimmt, und genau das wollte ich eben nicht. Die Figuren in «Matthias & Maxime» sind alle Mitte/Ende 20, ganz bewusst. Wenn man sich in dem Alter Fragen zu seiner Identität und Sexualität stellt, dann ist das etwas ganz anderes als zehn Jahre früher. Als Teenager oder mit Anfang 20 ist man ohnehin auf der Suche nach sich selbst, da stellt man sich viele dieser Fragen sowieso. Hinterfragen gehört da zum Alltag. In seinen späten Zwanzigern weiss man aber eigentlich ja, wer man ist, und ist gefestigter. Wenn man da plötzlich eine neue Seite an sich entdeckt und alles auf den Kopf gestellt wird, zu wem man sich bislang hingezogen fühlte, ist das unglaublich verwirrend und kann dazu führen, dass man sich plötzlich richtig verloren fühlt.
Warum haben Sie Ihrem Maxime eigentlich dieses markante Feuermal im Gesicht verpasst? Dieses Feuermal macht die Figur verletzlicher. Im Grunde ist sie die Veräusserlichung eines Mals, das ich in meinem Inneren trage. All die Unsicherheiten und Ängste, die ich mit mir herumtrage, sind ihm ins Gesicht geschrieben. Und die Leute starren ihn auf der Strasse deswegen an. Noch viel mehr als es die Menschen tun, die mich beobachten, weil sie mich erkennen. Gleichzeitig lässt sich über dieses Mal aber auch vermitteln, wie aufgehoben Maxime in seinem Freundeskreis ist. Dort ist er seit langem einfach so akzeptiert wie er ist, niemand guckt ihn schräg an oder erwähnt das Feuermal. Abgesehen von einer Szene im Film, in der das aber auch entsprechend grausam wirken soll.
Wie in allen Ihren Filmen spielen auch in «Matthias & Maxime» Popsongs eine grosse Rolle. Stimmt es, dass auch am Set bei Ihren Drehs Musik läuft? Ja, immer. Meiner Erfahrung nach hilft das allen dabei, den Rhythmus und die Musikalität des Films zu verstehen. Natürlich sind auch die Dialoge ein Teil davon, und sie sind selbstverständlich der wichtigste Anhaltspunkt. Aber ich glaube manchmal hilft es dabei, seine Emotionen mit dem Film in Einklang zu bringen, wenn man weiss, wie er sich später anhören und wie er aussehen wird. Deswegen mache ich das immer so. Ausser jemand von den Schauspieler*innen will das nicht. Natalie Portman bat mich bei «The Death & Life of John F. Donovan», ob wir bitte die Musik ausmachen könnten. Sie würde sich fühlen wie in einem Film. «Bist du doch auch», habe ich ihr geantwortet. Aber ich wusste natürlich, was sie meint. Es gibt eben auch Leute, die Stille brauchen, das ist dann okay für mich.
In «Matthias & Maxime» gibt es zum Beispiel eine fantastische Szene mit Harris Dickinson und «Always On My Mind» von den Pet Shop Boys. Den Song hörte er dann also auch, während er die gedreht hat? Ganz genau, dieser Song lief dann auch schon direkt am Set und wurde nicht erst später im Schnitt darübergelegt. Schon ins Drehbuch schreibe ich eigentlich immer exakt die Lieder hinein, die ich dann auch im fertigen Film hören will. Hin und wieder kommt es mal vor, dass der eine oder andere Song geändert wird oder später dazu kommt. Aber eigentlich stehen sie schon im Skript, als fester Bestandteil der Geschichte.
Dieses Mal hören wir nicht nur die Pet Shop Boys, sondern auch Britney Spears oder Florence & the Machine, in «Mommy» kam damals prominent Céline Dion zum Einsatz. Sind das einfach alles Ihre Lieblingssongs? Nein, nicht unbedingt. Nur manchmal (lacht). Und ich will auch nochmal betonen, dass sich der Einsatz von Musik in meinen Filmen sehr geändert hat. Früher war es ja oft so, dass die Songs über dem Film lagen, als bewusstes Stilmittel. Inzwischen integriere ich sie viel direkter in die Handlung. Von zwei Ausnahmen abgesehen, sind alle Songs in «Matthias & Maxime» nur deswegen zu hören, weil sie konkret im Radio oder Fernsehen laufen.
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Sie erwähnten «The Death & Life of John F. Donovan». Ihr vorangegangener, prominent besetzter Film über einen schwulen Schauspieler, der es zumindest in Deutschland nie ins Kino geschafft hat. Sind Sie für «Matthias & Maxime» auch deswegen zurück nach Montreal gekehrt, mit einer kleinen Geschichte, weil Ihr erster grosser englischsprachiger Film gefloppt ist? Nein, dieser Film ist keine Reaktion auf einen anderen Film. Ich wollte einfach diese Geschichte erzählen, die ich übrigens schon 2017 während der Dreharbeiten zu «Boy Erased» schrieb, also ein ganzes Jahr bevor «John F. Donovan» in Toronto seine Weltpremiere feierte. Wenn jetzt die Leute sagen, ich würde nach Hause zurückkehren, ist das Quatsch, denn ich war nie weg. Ich bin immer dort, wo die Menschen sind, mit denen ich künstlerisch tätig sein will. Mal sind das meine Freunde zuhause, mal andere fantastische Schauspieler*innen. Jetzt so zu tun, als hätte ich meine Wunden lecken müssen und hätte mich wieder eine Nummer verkleinern müssen, ist völliger Quatsch. Schon allein weil die Arbeit an «Matthias & Maxime» längst nicht so unkompliziert und bescheiden war, wie der Film vielleicht wirkt.
Erst wenn ich die komplette Kontrolle habe, fühle ich mich frei.»
Aber Sie werden nicht bestreiten, dass die harschen Kritiken zu «The Death & Life of John F. Donovan» Sie verletzt haben? So etwas bin ich doch gewohnt, schliesslich lebe ich jetzt seit zehn Jahren mit der Kritik fremder Menschen. Die Malerin Georgia O’Keeffe hat mal gesagt: «Ich habe längst alles mit mir selbst ausgemacht, deswegen fliessen Kritik und Schmeichelei bei mir in den gleichen Abfluss und ich fühle mich recht frei.» So geht es mir eigentlich auch. Ich wurde schon mit grossem Lob bedacht, aber eben auch mit hasserfüllten Kritiken. Manche konnte ich nachvollziehen, viele waren einfach dumm. Aber ich muss mich nicht mehr über die Meinung anderer definieren.
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Kommt daher auch Ihr Wunsch, verstärkt als Schauspieler zu arbeiten? Vielleicht. Ich möchte jedenfalls auch mit anderen Künstler*innen arbeiten und durch ihre Augen existieren. Es ist nicht so, dass ich keine Lust mehr darauf habe, Geschichten zu erzählen. Aber es fällt mir immer schwerer. Es kostet mich viel Zeit und Energie. Ich habe keine Lust darauf, eines Tages aufzuwachen und zu denken: Hm, ich habe zwar 18 Filme in 15 Jahren gedreht, aber dafür fühle ich mich wie 60! Diese Energie will ich auch ins Jungsein investieren, und deswegen werde ich für den Moment etwas kürzer treten mit eigenen Filmen. Und dann sehen wir weiter.
Xavier Dolan
Selten hat ein Regisseur so jung eine so steile Karriere hingelegt wir Xavier Dolan. Nach einer erfolgreichen Karriere als Kinderdarsteller und Synchronsprecher (er lieh Ron Weasley in der frankokanadischen Version der «Harry Potter»-Filme seine Stimme) inszenierte er 19-jährig seinen ersten Film «Ich habe meine Mutter getötet», der prompt beim Filmfestival in Cannes lief. Seither folgten weitere Filme wie «Herzensbrecher», «Laurence Anyways», «Sag nicht, wer du bist!», «Mommy» und «Einfach das Ende der Welt» sowie jede Menge Preise, nicht nur in Cannes. Ausserdem führte der offen schwule Kanadier beim sensationell erfolgreichen Video zu Adeles «Hello» Regie. Sein englischsprachiges Debüt «The Death & Life of John F. Donovan» mit Natalie Portman, Kit Harrington, Jacob Tremblay, Susan Sarandon und Thandie Newton kam 2018 bei den Kritiker*innen gar nicht gut an – und in vielen Ländern nicht einmal ins Kino. Mit «Matthias & Maxime» kehrt der inzwischen 31-jährige nun zurück in die frankokanadische Heimat.
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