«Weg mit euch Schwuchteln»: Der Holocaust-Gedenktag 2019
Am 27. Januar wird der ermordeten europäischen Juden und anderer Opfer der NS-Diktatur gedacht - der Comic «The Life of Gad Beck» tut das auf besondere Weise
«Wenn wir an queere Menschen und den Holocaust denken … fällt es schwer, sich etwas anderes als eine Opferrolle vorzustellen.» So beginnt ein am heutigen Holocaust-Gedenktag veröffentlichter Comic über den schwulen jüdischen Widerstandskämpfer Gad Beck. Zu lesen ist er bei der Online-Plattform The Nib, wo täglich Kurz-Comics erscheinen. The Nib setzt damit eine zentrale Forderung des deutschen Aussenministers Heiko Maas (SPD) um, der neue Ansätze in der Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen verlangt.
Am 27. Januar wird alljährlich der sechs Millionen ermordeten europäischen Juden und aller anderen Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Die Petition des Historikers Lutz van Dijk an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), bei der Gedenkstunde im Bundestag auch erstmals thematisch (und nicht nur in einer pflichtschuldigen Aufzählung) der homosexuellen Opfer zu gedenken, hatte im Vorfeld des diesjährigen Gedenktags für Diskussionen gesorgt, besonders nachdem Schäuble die Forderung abgelehnt hatte.
Mit welchem Geschichtsbewusstsein wachsen (junge) Menschen heute auf, wenn an wichtige geschichtliche Zusammenhänge und Vorfälle nicht laut erinnert und entsprechend auch nicht darüber gesprochen wird in einer breiten Öffentlichkeit?
Was wir jetzt brauchen, sind neue Ansätze, um historische Erfahrungen für die Gegenwart zu nutzen
Erkenntnis- statt Erinnerungsprojekte «Wer heute geboren ist, für den ist etwa die Pogromnacht zeitlich genauso weit entfernt wie bei meiner Geburt ein Reichskanzler Bismarck. Das verändert das Gedenken, schafft mehr Distanz», sagt Heiko Maas. Er fügt hinzu: «Was wir jetzt brauchen, sind neue Ansätze, um historische Erfahrungen für die Gegenwart zu nutzen. Unsere Geschichte muss von einem Erinnerungs- noch stärker zu einem Erkenntnisprojekt werden.»
Man könnte den kostenlos anklickbaren Comic «The Life of Gad Beck: Gay. Jewish. Nazi Fighter» von Dorian Alexander und Levi Hastings als solch ein Erkenntnisprojekt einstufen.
Er beginnt in der Jetztzeit mit einem Paar, das im Berliner Tiergarten vorm «Mahnmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen» steht, das vom Künstlerduo Elmgreen und Dragset entworfen wurde und worin ein Film mit (heutigen) küssenden Menschen zu sehen ist – was zum Ärger Vieler nur begrenzt an die Verfolgung von Homosexuellen zwischen 1933 und 1945 erinnert und den Horror nur indirekt verdeutlicht, dem vor allem Männer damals ausgesetzt waren.
Der Paragraph 175 bezieht sich bekanntlich nicht auf Frauen, die im Fall von homosexuellen Handlungen als «Asoziale» verhaftet wurden und entsprechend auch mit einem schwarzen statt rosa Winkel ins KZ kamen. Auch darüber wird aktuell heftig gestritten, in wie weit homosexuelle Frauen überhaupt «gleichberechtigte» Opfer der NS-Diktatur waren.
Queere Helden Im Comic schwenkt das Narrativ sofort um und zeigt Gad Beck (1923-2012) in imposanter Heldenpose – als coolen Geheimagenten im Trenchcoat.
Erzählt wird die Geschichte seiner Familie, die nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um aus Deutschland zu flüchten. Gad wächst in Berlin auf, umringt von NS-Symbolik, und verliebt sich in Männer, trotz des von den Nazis verschärften Paragraphen 175. Gezwungen in den Untergrund zu gehen, lebt Gad Beck dort seine Homosexualität aus – und rettet seinen ersten Liebhaber nach dessen Verhaftung, indem er sich als Hitlerjunge verkleidet und den Behörden entlockt, wo Manfred festgehalten wird. Ihm gelingt die Befreiung des Liebhabers, aber Manfred entscheidet sich, Deutschland zu verlassen.
Der Abschiedsmoment ist der Moment, in dem Gad Beck nach eigener Aussage binnen Sekunden «erwachsen» wurde. Er sollte seine erste grosse Liebe nie wiedersehen, denn Manfred Lewin und seine Familie werden in Auschwitz ermordet.
Ab 1943 formt Gad mit seiner Zwillingsschwester ein Untergrundnetzwerk und schmuggelt zusammen mit Schweizer Organisationen lebensnotwendige Nahrung, Medizin und Geld nach Deutschland. In dieser Situation verliebt sich Gad erneut – in Zwi.
Er wird sein Lebenspartner.
Folter und Flucht Die beiden werden von den Nazis entdeckt und verhaftet, später auf brutale Weise verhört. Zwi muss zuschauen, wie die Nazis Gad mit Foltermethoden Geheimnisse zu entreissen versuchen. Es gelingt ihnen nicht.
Durch eine Bombe, die das NS-Gefängnis trifft, kann Gad fliehen und überlebt versteckt mit gebrochenen Knochen den Krieg an der Seite von Zwi.
Stalin verbreitet den Glauben, dass alle Nazis schädliche Homosexuelle seien
Als die Sowjets Berlin erreichen – mit dem von Stalin verbreiteten Glauben, dass alle Nazis schädliche Homosexuelle seien –, machen sie Gad zum Repräsentanten für Jüdische Angelegenheiten in Berlin. Gad misstraut den Sowjets jedoch und macht sich mit einer kleinen Gruppe auf nach München. Später zieht Gad mit seiner Zwillingsschwester, seiner überlebenden Familie und Zwi nach Israel. Wo er ein bekannter Aktivist wird, bis er nach Berlin zurückkehrt und 2012 stirbt.
Der Comic endet jedoch nicht mit der Empowerment-Botschaft «Nichts konnte Gad daran hindern, mit sich selbst identisch zu leben» («Nothing stopped Gad from living true to himself»). Nein, der Comic zeigt, wie heute wieder Neonazis und White Supremacists aufmarschieren, z.B. im US-amerikanischen Charlottesville, und «Sieg Heil» brüllen. Oder: «Fuck you, faggots», also «Weg mit euch Schwuchteln».
Angst als Waffe Wohin eine solche Geistes- und politische Haltung führt? «Wir müssen uns nicht ausmalen, was sie mit uns machen werden; wir wissen es bereits.» Die Autoren des Comics formulieren deshalb ihre zentrale Botschaft: «Gad Beck wusste, dass Angst immer die Waffe ist, die Faschisten zuerst anwenden.» Diese Angst müsse man also überwinden!
Wie und ob das queere junge Paar im Comic den Kampf gegen solche politischen Realitäten in den USA und anderen Ländern mit erstarkenden rechtsnationalen Kräften aufnehmen wird – das ist die grosse Frage für die Zukunft der LGBTIQ-Bewegung.
Wie viel Solidarität zwischen den einzelnen LGBTIQ-Gruppen untereinander herrschen wird, ist ebenfalls eine grosse Frage. Erinnert sei hier nur an den krassen Streit zwischen Lesben und Schwulen rund um das Mahnmal in Berlin.
Vergleich mit Anne Frank Lutz van Dijk wollte für 2021 – als nächstem möglichem Termin – in der Holocaust-Gedenkstunde des Deutschen Bundestags eine explizite Erinnerung an die homosexuellen Opfer. Denn immer mehr alte Männer sterben, die nach 1945 weiterhin nach dem Paragraphen 175 (in der von den Nazis verschärften Fassung, die in Deutschland bis 1969 unverändert galt!) verurteilt wurden und eine Anerkennung ihres Leides im Bundestag im Rahmen einer Gedenkstunde nicht mehr erleben werden.
Mehr junge Menschen als je zuvor werden als Angehörige sexueller Minderheiten weltweit verfolgt, gefoltert und hingerichtet
Van Dijk schreibt über seinen Ärger zur erneuten Ablehnung durch den Bundestagspräsidenten: «Dies [geschieht], obwohl seit unserer ersten Anfrage mehr junge Menschen als je zuvor als Angehörige sexueller Minderheiten weltweit verfolgt, gefoltert und hingerichtet oder ermordet wurden und für die es so eine Anerkennung dieses Unrechts vor einem Parlament bisher einzig in Kanada durch Premierminister Justin Trudeau am 29. November 2017 gab. Demgegenüber gibt es immer noch Länder, in denen die Todesstrafe bei homosexuellen Frauen und Männern besteht oder eingeführt werden soll – und der neue Präsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, unter anderem erklärte, dass auch er Schwule, die sich öffentlich küssen, zusammenschlagen würde.»
Van Dijk weiter: «Als langjähriger Mitarbeiter des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam weiss ich, dass das Schicksal eines einzelnen Mädchens, die ihre Gedanken in einem Tagebuch formulierte, bis heute Millionen Menschen in aller Welt mehr Verständnis für die Bedingungen jüdischen Lebens und Leidens in Europa 1933 bis 1945 vermittelt, als es die eine furchtbare Zahl von sechs Millionen ermordeter jüdischer Kinder, Frauen und Männer jemals kann.»
Ob die 1995 veröffentlichten «Erinnerungen» des homosexuellen, jüdischen Berliners Gad Beck je eine solche Wirkung entfalten werden? Dafür müssten sie zuerst einmal entsprechend bekannt werden und das Buch «Und Gad ging zu David» aus der Nische der «Schwulenliteratur» rauskommen sowie bei einem grösseren Verlag erscheinen, mit mehr Marktpräsenz.
Immerhin hat der Komponist Jake Heggie eine bewegende Kurzoper über Gad Beck und Manfred Lewin geschrieben, die vor einigen Jahren als US-Gastspiel in Deutschland, inklusive Berlin, zu sehen und hören war. Sie steht zum heutigen Holocaust-Gedenktag allerdings nirgendwo in Deutschland auf dem Programm.
Somit ist das Comic bei The Nib ein bemerkenswerter Versuch, wirksam gegen das Vergessen und anhaltende Verschweigen von Homosexualität und Holocaust anzukämpfen.
Behinderung der Forschung durch KZ-Überlebende Erst letzten Sommer hat die Historikerin Anna Hájková darauf hingewiesen, dass ihre Nachforschungen zur tragische Liebesgeschichte der KZ-Insassen Jan Mautner und Fredy Hirsch behindert wurde vom Vorstand der Theresienstädter Initiative, der tschechischen Vereinigung der Holocaustüberlebenden. Sie lehnte die Anfrage Hájkovás ab, in ihrem Newsletter nach Zeugen des Paares zu suchen. Denn eine Überlebende legte ihr Veto ein: Auch wenn alle wüssten, dass Hirsch schwul war, so sollte darüber nicht gesprochen werden; das würde «sein Andenken beschmutzen».
Im Zeitalter des wachsenden Populismus stehen LGBT-Rechte und queere Geschichte nicht nur für sich
Hájková schrieb damals im Berliner Tagesspiegel: «Es ist eine Tragödie, dass ausgerechnet die Überlebenden-Organisation auf diese Weise die letzten Spuren einer großen queeren Liebesgeschichte im Herzen des Holocaust verwischt. Im Zeitalter des wachsenden Populismus stehen LGBT-Rechte und queere Geschichte nicht nur für sich. Wie ein Wetterleuchten das heranrückende Gewitter, so zeigt der Umgang mit ihnen eine Tendenz zur Einschränkung offener Geschichtsschreibung an. Wir müssen kämpfen, um sie zu erhalten.»
Das Schwule Museum als naheliegender Ort für eine entsprechende «kämpferische» Veranstaltung zu offener Geschichtsschreibung bietet übrigens 2019 kein Event, das sich zum 27. Januar mit der Thematik beschäftigt – dort widmet man* sich lieber Ausserirdischen mit einer Führung durch die Ausstellung «Extra+Terrestrial» als nächstem anstehenden Event.
Zum Comic von Dorian Alexander und Levi Hastings bei The Nib geht es hier.
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