«Sie standen Schlange, um mich zu umarmen»
Tessa Ganserer (Grüne) ist die erste trans Abgeordnete in Deutschland
Seit 2009 wird der 31. März als International Transgender Day of Visibility (TDOV) begangen. In diesem Jahr gibt es in Deutschland immerhin etwas mehr Sichtbarkeit – dank Tessa Ganserer.
von Martin Arz
»Mir wäre es lieber, wenn Sie heute nicht hier wären«, sagt Tessa Ganserer zu Beginn der Pressekonferenz Mitte Januar. »Mir wäre es lieber, wenn die sexuelle Identität denselben Stellenwert als Nachricht hätte wie die Augenfarbe.« Man merkt der 41-jährigen Grünen-Politikerin an, dass ihr der Rummel um ihre Person unangenehm ist. Weil es nicht um ihre politische Arbeit geht, sondern um sie als Privatperson. Wegen des Andrangs der Medienvertreter musste die Presskonferenz in einen größeren Raum verlegt werden.
Tessa Ganserer ist die erste trans Person in einem deutschen Parlament. Seit 2013 sass sie zunächst als Markus im Bayerischen Landtag. 2018 kam die Wiederwahl. Dann verschwand Markus für immer.
Ganserer ist frisch gewählte queerpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Zur Unterstützung sitzt Petra Weitzel, Vorsitzende digit e.V. (Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität) mit auf dem Podium, die mit Zahlen und Fakten unterstützt. Nein, Fragen zu ihrem Privatleben möchte Tessa Ganserer nach Möglichkeit nicht beantworten. Das sei alles schon gesagt. Man solle bitte den Artikel in der Süddeutschen lesen. Doch die Fragen kommen. Was war der Auslöser? Warum erst nach der Landtagswahl? Wie hat die Ehefrau reagiert? Wird es mit Frau Ganserer eine andere Politik geben als mit Herrn Ganserer?
»Ich mach des hier ned zum Spaß und hab mir des ned ausgesucht«, sagt Tessa Ganserer deutlich und beherrscht. »Ich definiere mich als Frau. Ich hatte leidvolle, schmerzhafte Jahre, bis ich keine Kraft mehr hatte, bis klar war, dass ich mein Leben als Frau leben muss, um ein zufriedenes Leben zu führen.«
Seit gut zehn Jahren weiss Ganserer, dass sie eine Frau ist. Das Schlüsselerlebnis war, als sie einfach ein Kleid ihrer Ehefrau anzog und es sich nicht nach Fetisch, sondern sofort einfach richtig anfühlte. Zwei Jahre später offenbarte sie sich ihrer Frau. Doch über ihre Ehe möchte sie nicht reden, außer, dass sich ihre Frau ja in den Menschen und nicht in ein Geschlecht verliebt habe. Ganserer ist froh, dass sie sich heute nicht mehr scheiden lassen muss, um ihre Transidentität zu leben, wie das früher war – dank ihrer vielen Vorkämpferinnen, denen sie mehrfach ausdrücklich dankt.
Und sie betont, dass sich ihre Zuneigung ihrer Frau gegenüber nicht geändert habe. Anders als ihrer Frau hat sie ihren beiden Söhnen erst kurz vor dem öffentlichen Coming-out die Situation erklärt. Sie zog sich als Frau an und sagte den Buben (sechs und elf Jahre alt): »Ich bin jetzt immer so.« Jetzt ist sie halt die zweite Mama, zuständig weiterhin fürs Pfeil und Bogen schnitzen.
Es ging einfach nicht mehr!
An jenen Dezembertagen schliesslich packte sie all ihre Männerkleidung zusammen und schenkte sie einem Freund mit gleicher Statur. Es war Zeit. Der Leidensdruck war einfach zu gross geworden. Die Angst, vor dem, was kommen mochte, trat in den Hintergrund. Mehrfach sagt Ganserer diesen Satz: »Es ging einfach nicht mehr!« Die Frage, warum sie denn bis nach der Landtagswahl gewartet habe, schließlich sei sie schon vorher eigentlich Tessa und nicht mehr Markus gewesen, bringt sie kurz in Rage: »Diese Frage steht niemand zu! Das Coming-out legt jeder selbst fest.« Niemand könne einem transidenten Menschen den richtigen Zeitpunkt vorschreiben. Ja, es stimme, dass der wahlkämpfende Markus längst Tessa war, doch sei ein Wahlkampf so anstrengend und Kräftezehrend, dass sie in dieser Zeit nicht auch noch ein Coming-out mit allen Konsequenzen hätte wegstecken können.
Nach der Wahl machte Ganserer zunächst Schlagzeilen, weil sie ankündigte, mal als Mann, mal als Frau durch den Tag zu gehen. Einige Medien rückten sie in Richtung Travestie. Doch diese Ankündigung, so sagt sie heute, war ein wichtiger Schritt Richtung Outing, der ihr Zeit verschaffte und ihr den Druck nahm, bis sie die Kraft hatte, Markus endgültig zu verabschieden. Zunächst informierte sie ihre Fraktion über die Veränderung. »Sie standen Schlange, um mich zu umarmen«, berichtet sie. Dann kam ein »sehr angenehmes« Gespräch mit Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) und der Verwaltung. Aigner stellte sich sofort hinter sie. Tessa hatte sich seelisch auf Spott und womöglich auch Hass vorbereitet und stiess zur eigenen Verwunderung auf breites Verständnis bei den Kolleginnen und Kollegen. Man sprach ihr Mut zu. Bisher erhielt sie nur positive Reaktionen quer durch fast alle Fraktionen. Nur die AfD hielt sich komplett zurück.
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