Sebastian Vettel beendet Karriere: «Meine Ziele haben sich verändert»
Sebastian Vettel reicht es. Einer der erfolgreichsten Rennfahrer der Formel-Geschichte beendet seine Karriere mit 35 Jahren nach dieser Saison. Seine sportliche Hochzeit ist länger vorbei. Die Familie ist wichtiger geworden. Den Kindern «zuzuhören, wenn sie mich brauchen».
Von Thomas Wolfer und Jens Marx, dpa
Ein kleiner Hocker, ein schmuckloser Raum, Sebastian trägt schwarz. Er nimmt Platz und zögert nicht lang. «Ich verkünde hiermit meinen Rücktritt aus der Formel 1 am Ende der Saison 2022.»
In einem rund vierminütigen Instagram-Video auf deutsch und englisch, das am Donnerstag nach zwei Stunden schon knapp acht Millionen Mal angesehen wurde, erklärte Vettel offen und mit emotionaler Entschlossenheit die Gründe für seinen nahenden Rücktritt mit 35 Jahren. «Meine Ziele haben sich verändert», sagt er. «Weg von Rennsiegen und dem Kampf um Meisterschaften, dazu, meine Kinder aufwachsen zu sehen.»
Seine drei Kinder, seine Frau, die Liebe für die Natur, die aktuellen Herausforderungen der Menschheit, der Kampf um Gleichheit – Vettel liess nichts aus. Auch wenn er vor einer Woche noch – überraschend – erklärt hatte, weitermachen zu wollen: die Worte, mit denen er das Ende einer der erfolgreichsten Karrieren im Motorsport ankündigte, zeigen, was im Menschen Sebastian Vettel steckt. «Ein Rennfahrer zu sein war nie meine ganze Identität», sagt Vettel. Fast schon philosophisch ergänzt er: «Wer ich bin? Ich bin Sebastian, Vater von drei Kindern und Ehemann einer wundervollen Frau.»
Er sei auch neugierig, mal nervig, nach Perfektion strebend, ehrgeizig. Attribute, die ihn als Formel-1-Piloten auszeichneten und zu einem der besten seines Fachs machten. Eine Bilderbuch-Karriere war es in der ersten Hälfte. Der gebürtige Heppenheimer glänzte vor allem in seiner Zeit bei Red Bull mit vier WM-Titeln von 2010 bis 2013; der Vettel-Finger auf dem Podium wurde legendär.
Lange wirkte Vettel immer wie ein Schüler auf Besuch im Fahrerlager: unbeschwert, ein bisschen frech, witzig, auch mal schmollend, wenn es nicht nach seinem Willen lief, aber eigentlich immer authentisch. Selbst während der Zeit nach seiner Hochphase. Mit der Ära bei Ferrari wie beim grossen Idol Michael Schumacher wurde es in sechs eher tristen Jahren nichts. Auch dass es bei Aston Martin nichts wurde, wird Vettel letztlich verkraften können. Am 20. November in Abu Dhabi wird er zum letzten Mal ein Formel-1-Rennen bestreiten. Ein Rücktritt vom Rücktritt – bei ihm unvorstellbar.
Sein ganzer Fokus soll seiner Liebsten und den drei gemeinsamen Kindern gelten. In der Schweiz lebt Vettel mit seiner Familie auf einem ehemaligen Bauernhof. Er will seine «Werte weitergeben», den Kindern helfen, «wenn sie fallen und ihnen zuzuhören, wenn sie mich brauchen», sagte er. Das alles sei mit einem Job in der Formel 1 einfach nicht mehr vereinbar.
Lange habe er über den Schritt nachgedacht. «Ich liebe diesen Sport. Es war der Mittelpunkt meines Lebens seitdem ich denken kann», sagte er vor dem Grossen Preis von Ungarn am Sonntag (15.00 Uhr/Sky) in Budapest: «Aber so sehr es das Leben auf der Strecke gibt, so sehr gibt es auch mein Leben neben der Strecke.»
Ich bin tolerant und fühle, dass wir alle die gleichen Rechte zu leben haben. Egal wie wir aussehen, woher wir kommen oder wen wir lieben.
Auf der Piste versuchte er von 2015 bis 2020 Michael Schumacher nachzueifern. Statt Titeln gab es bei Ferrari die Ausmusterung. Nach zwei Jahren bei Aston Martin reicht es Vettel nun ganz. Zuletzt machte er ohnehin mehr Schlagzeilen durch sein politisches Engagement, den Kampf für Menschenrechte und die Umwelt als mit Erfolgen auf der Rennstrecke. «Ich bin tolerant und fühle, dass wir alle die gleichen Rechte zu leben haben. Egal wie wir aussehen, woher wir kommen oder wen wir lieben», sagte Vettel auch in seiner Rücktritts-Ankündigung und kündigte an, sich weiterhin zu engagieren.
Die verbleibenden zehn Rennen – am Ende wird er wohl als siebter Fahrer der Geschichte die 300 Grand-Prix-Starts schaffen – will er genießen. Die Hoffnungen auf Besserung im grünen Rennwagen seines insgesamt fünften Formel-1-Arbeitgebers erfüllten sich auch im zweiten Jahr nicht. Aktuell belegt er nur den 14. WM-Rang, er holte in den bisherigen zwölf Rennen gerade mal 15 Punkte. Sein letzter Sieg von insgesamt 53 Grand-Prix-Erfolgen liegt lange zurück, es war am 22. September 2019 in Singapur. Seinen letzten WM-Titel hatte er 2013 gefeiert. Was danach folgte, war ein steter Abstieg.
Mit seinen großen Erfolgen bleibt Vettel dennoch einer der meist dekorierten Piloten der Formel 1. Im aktuellen Feld holte nur Lewis Hamilton mehr Titel. Hinter dem Briten und Michael Schumacher (beide 7) sowie Juan Manuel Fangio (5) folgt Vettel in der ewigen Bestenliste bereits zusammen mit Alain Prost. «Seb, es war mir eine Ehre, dich einen Konkurrenten zu nennen, und eine noch größere Ehre, dich meinen Freund zu nennen», twitterte Rekordweltmeister Hamilton am Donnerstag. Dazu ergänzte der Mercedes-Star: «Diesen Sport besser zu verlassen, als man ihn vorgefunden hat, ist immer das Ziel. Ich habe keinen Zweifel daran, dass alles, was als nächstes für dich kommt, aufregend, bedeutungsvoll und lohnend sein wird.»
Vettels Rücktritt bedeutet auch, dass im kommenden Jahr ein weiterer deutscher Fahrer fehlen wird. Ob überhaupt noch einer dabei sein wird, muss sich zeigen: Bisher liegt Vettel-Kumpel Mick Schumacher noch kein neuer Vertrag vor. «Ich bin so traurig, dass du gehst, aber gleichzeitig freue ich mich für dich und dieses neue Kapitel deines Lebens», schrieb Schumacher: «Danke für alles, was du für den Sport gemacht hast, den wir beide lieben.»
Langweilig dürfte es Vettel nicht werden. Seit einiger Zeit beschäftigt er sich intensiv mit Umweltbelangen, er wurde neben Hamilton zum politischen Anführer und moralischen Wegweiser. Er schreckt auch vor Konfrontationskursen nicht zurück. Er setzt sich für die LGBTIQ-Community ein (MANNSCHAFT berichtete), zierte das Cover eines Homosexuellen-Magazin, prangert Umweltsünden an, selbst wenn es wie zuletzt in Kanada dafür reichlich Ärger selbst von hochrangigen Politikern gibt. Auch zum Müllsammeln an den Strecken ist er sich nicht zu schade.
2007 feierte Vettel sein Debüt als Ersatzmann im BMW in den USA. Noch in derselben Saison wurde er von Toro Rosso als Stammfahrer engagiert. 2008 folgte in Monza der erste Sieg, ehe er nach der Beförderung zu Red Bull 2010, 2011, 2012 und 2013 die WM gewann.
2014 kam der erste schwere Einbruch, kein Sieg, nur noch WM-Fünfter und der Wechsel zu Ferrari: 14 Rennsiege mit der Scuderia. Schon vor dem ersten Rennen der Saison 2020 hatte Ferrari mitgeteilt, dass es für Vettel 2021 keinen Platz mehr geben würde. Der Einstieg von Aston Martin in die Formel 1 kam zur rechten Zeit, doch der große Erfolg blieb aus. Konkrete Karriere-Pläne für die Zukunft hat er nicht, sagte aber vielsagend: «Mein bestes Rennen? Das kommt erst noch.»
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