Queer Migrants – wie gehen Familien mit Coming-out um?
Am Wochenende trafen sich Eltern und Angehörige in Hannover zum Erfahrungsaustausch
Am Wochenende hatte QLM – Queeres Leben in der Migrationsgesellschaft (Queer Migrants) in Hannover zum Workshop geladen: Er richtete sich an Eltern und Angehörige von LGBTIQ-Kindern und bot ihnen eine Plattform zum Erfahrungsaustausch.
Im Juli 2016 nahm die NVBF-Niedersächsische Vernetzungsstelle für die Belange von LGBTIQ-Flüchtlingen ihre Arbeit auf. In den letzten Jahren wurde jedoch deutlich, dass nicht nur im Kontext von Flucht sondern auch bei Menschen der zweiten und dritten Generation mit Migrationskontexten ebenfalls ein Bedarf für eine spezialisierte Anlaufstelle für den Themenbereich LGBTIQ besteht. Immer häufiger kamen Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die aber keine Beratungsangebote vorgefunden haben, die sich mit ihren Mehrfachzugehörigkeiten auskennen und adäquat auf ihre Bedürfnisse reagieren können.
Vater schneidet schwulem Sohn fast die Kehle durch
Um auch für diese Menschen eine Anlaufstelle sein zu können und vor allem das Thema LGBTIQ in die Strukturen der sozialen und politischen Migrationsarbeit, sowie in die Migrant*innenselbstorganisationen hineintragen zu können, wurde die NVBF um den grösseren Arbeitsbereich Migration erweitert. Unter dem neuen Namen «QLM – Queeres Leben in der Migrationsgesellschaft» wurde ein Kompetenzzentrum aufgebaut. Das Projekt vom Andersraum e.V. und dem VNB. e.V. wird aus Mitteln des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung gefördert.
Am Samstag nun hatte man zum Workshop eingeladen, um Eltern und Angehörigen eine Plattform zum Erfahrungsaustausch bieten, in der sie gehört und auch verstanden werden. «Im geschützten Rahmen bieten wir die Möglichkeit mit anderen Elternteilen und Angehörigen in Kontakt zu treten», erklärt der Projektkoordinator der Queer Migrants, Kadir Özdemir, selber türkischstämmig.
Homosexualität ist in vielen Communities auch weiterhin kaum ein öffentliches Thema – schon gar nicht, wenn es die eigenen Kinder betrifft. Eltern, aber auch Angehörige queerer People of Color und Queers mit Migrationshintergrund sind nach einem Coming-Out aus dem familiären Umfeld oftmals überfordert. Sie fühlen sich überwältigt, missverstanden und isolieren sich häufig in ihren Communities. In dem Workshop gab es nun die Möglichkeit, sich auszutauschen.
Eine Mutter berichtete von ihrer lesbischen Tochter und erzählte von ihren Schuldgefühlen, weil sie sie beim Coming-out nicht unterstützt hatte, was ihr heute sehr leidtut. Mittlerweile kann sie sagen: Mein Kind kommt an erster Stelle. Wenn das eine Mutter in so einer Runde sagt, ist das viel kraftvoller, als wenn es jemand von uns gesagt hätte, so Özdemir.
Soziale Kontrolle in der türkischen Community Eine andere Teilnehmerin, dessen schwuler Sohn sich ihr anvertraut hatte, bekam darüber Depressionen, weil sie sich von der Aussenwelt abzuschotten begonnen hatte. Sie mochte nicht mehr von Mitgliedern der türkischen Community gefragt werden, warum denn ihr Sohn immer noch nicht verheiratet sei – also nahm sie keine Einladungen mehr an, blieb für sich. Sie wollte die soziale Kontrolle, die in der türkischen Community noch stark vorhanden ist, vermeiden.
Eingeladen hatte auch die Türkische Gemeinde Niedersachsen (TGN), die eine Vertreterin zum Treffen schickte. Nejla Coşkun ermutigte die Teilnehmerinnen, die sich und ihre Kinder oft als «Betroffene» bezeichneten, die Homosexualität ihrer Kinder als Segen zu sehen – anstatt deren Identität zu problematisieren.
Aktuell leben in Niedersachsen knapp 8 Millionen Menschen, von denen 1,6 Millionen einen Migrationskontext haben. In den grösseren Kommunen des Landes ist es sogar jedes vierte Kind.
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Man geht bei Queer Migrants davon aus, dass innerhalb dieser grossen Gruppe zwischen 90.000 – 120.000 LGBTIQ sind. Was Hannover betrifft, sei die Landeshauptstadt – die seit dem Wochenende den ersten Oberbürgermeister mit Migrationshintergrund hat – mit einer halben Million Einwohner*innen recht gross, aber in der Struktur nicht vergleichbar mit Städten Berlin oder Köln. Viele der Türk*innen, Kurd*innen oder Araber*innen sind hier vernetzt, kennen sich untereinander, sodass schwule oder lesbische Kinder nach der Schule oft die Stadt verlassen, um sich der sozialen Kontrolle zu entziehen.
Nicht alle Queer Migrants wollen Sichtbarkeit Doch auch unter homosexuellen Migranten gebe es unterschiedliche Bedarfe. Da seien jene, denen es durchaus ein Bedürfnis sei, sichtbar zu sein und über ihre sexuelle Identität zu sprechen. Anderen wiederum sei es lieber, LGBTIQ nicht zu thematisieren, um unerkannt, gewissermassen unter dem Radar leben zu können. Özdemir erzählt, dass es etwa in türkischen Cafés normal sei, wenn ein Mann hereinkommt und keinen Platz mehr findet, dass er sich bei einem anderen auf den Schoss setzt, dass beide Männer auch zärtlich miteinander sind. Solange das Thema Homosexualität nicht im Raum stehe, käme auch niemand auf die Idee, solche Gepflogenheiten anders zu sehen.
Acht Mütter kamen aus der türkisch-kurdisch-arabischen Community – immerhin, auch wenn man sich mehr erhofft hatte. Auch zumindest einen Vater hätte man sich in der Runde gewünscht. «Aber diejenigen, die da waren, waren genau richtig», so Kadir. Sie kamen, um mit anderen über die Tatsache sprechen zu können, dass sie einen schwulen Sohn oder eine lesbische Tochter hatten. Teilweise hätten auch die Ehemänner Bescheid gewusst, auch wenn es laut Özdemir oft die Mutter sei, der sich queere Migrant*innen anvertrauten. Sie seien traditionell für emotionale Angelegenheiten zuständig.
Als nächstes will man eine offene Sprechstunde anbieten, zu der Elternteile oder Angehörige anonym gehen könne, ohne sich anmelden zu müssen.
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