Posthum veröffentlicht: Simone de Beauvoir und die lesbische Liebe
Über ihre Frauenliebe und Bisexualität hatte die Intellektuelle zu Lebzeiten nie offen geredet
Simone de Beauvoir wollte den Roman zu Lebzeiten nicht publizieren, weil sie ihn für zu persönlich hielt. 66 Jahre später ist jetzt das Werk «Les inséparables» der Intellektuellen und Feministin erschienen. Von Sabine Glaubitz, dpa
Die Beziehung zwischen Sylvie und Andrée dauerte über zehn Jahre, bevor sie mit dem tragischen Tod von Andrée im Alter von knapp 22 Jahren ein abruptes Ende nahm. «Les inséparables» heisst der in Frankreich posthum erschienene Roman von Simone de Beauvoir (1908-1986), den sie zeitlebens nie veröffentlichen wollte. Weil er eine zu persönliche, intime Geschichte erzählt? 66 Jahre später hat ihn nun Sylvie Le Bon de Beauvoir publiziert, die Adoptivtochter der Schriftstellerin und Philosophin, die mit «Das andere Geschlecht» (im Original: Le deuxième sexe) Frankreichs bekannteste Feministin und Intellektuelle wurde. Auf Deutsch wird der Roman, der in Frankreich im Verlag L’Herne erschienen ist, im kommenden Jahr von Rowohlt herausgebracht.
Die Stärke des 1954 verfassten autobiografischen Werks «Les inséparables» (etwa: Die Untrennbaren) liegt in der Zweideutigkeit der Gefühle, die die Erzählerin Sylvie Lepage, das Alter Ego der Schriftstellerin, für Andrée Gallard hegt, den Avatar von Elisabeth Lacoin. Sie lernen sich im Alter von 9 und 10 Jahren kennen, sind Klassenkameradinnen und werden zusammen erwachsen. Sie kennen keine Tabus. Religion, Politik, Literatur und Jungs – kein Thema bleibt bei ihren Diskussionen auf der Strecke.
Das einzige zweideutige Sujet ist ihre Beziehung. Sylvie liebt Andrée, die jüngste der Töchter einer gut bürgerlichen, streng katholischen Familie. «Ohne sie zu leben, bedeutet nicht mehr zu leben», schreibt Beauvoir. Andrée ist brillant und lustig. Sylvie denkt nur an sie – und wird es ihr gestehen. Doch Andrée liebt das andere Geschlecht.
Achtung, küssende Lesben auf der Fahrbahn!
Der plötzliche Tod ihrer Jugendfreundin Elisabeth Lacoin, auch Zaza genannt, hat Beauvoir für immer geprägt. Sie hat die junge Frau in mehreren ihrer Bücher erwähnt, darunter in «Memoiren einer Tochter aus gutem Haus». Zaza ist an der Frömmigkeit und dem konservativ-bürgerlichen Milieu ihrer Familie zerbrochen und am 25. November 1929 gestorben – einen Monat vor ihrem 22. Geburtstag.
Das gleiche braune, quadratisch geschnittene Haar, die gleichen langen weissen Kleider: Von ihren Lehrern werden sie die Untrennbaren genannt. Auf 170 Seiten bringt die feministische Theoretikerin ihre Bewunderung und Liebe für die Protagonistin zum Ausdruck – ohne Anklänge von Körperlichkeit und sexuellem Inhalt. Über ihre Frauenliebe und Bisexualität hatte die Intellektuelle zu Lebzeiten nie offen geredet. Öffentlich bekannt wurde beides erst durch posthum veröffentlichte Briefe und Tagebücher.
Beauvoir hat über 20 000 Briefe geschrieben, ein Grossteil befindet sich heute im Besitz ihrer Adoptivtochter, die sie Anfang der 60er Jahre kennengelernt hatte. Sie war ihre Philosophieschülerin an der Pariser Sorbonne. Nach dem Tod von Beauvoir am 14. April 1986 hat sie entschieden, die in einem Wandschrank verborgenen Dokumente zu publizieren.
Sie hätte über Sexualität nicht alles gesagt, räumte Beauvoir auch gegenüber Alice Schwarzer ein. Sie wäre ehrlicher gewesen, zitierte die deutsche Feministin aus dem Gespräch mit Beauvoir weiter, über das sie Jahre später in einem 1994 in der Zeitschrift Emma erschienenen Artikel schrieb. Die Begegnung der beiden fand kurz vor dem Tod Beauvoirs statt.
Warum hat Beauvoir zu Lebzeiten über ihre sexuelle Neigung geschwiegen? Warum hatte sie «Les inséparables» nie veröffentlicht? Hatte sie Angst vor weiterer Kritik nach der Veröffentlichung von «Das andere Geschlecht»? Das Werk über die Unterdrückung der Frau in einer von Männern dominierten Welt schlug wie eine Bombe ein. Für die katholische Kirche war das 1949 erschienene Buch ein Produkt dekadenter, unmoralischer, pornografischer und bürgerlicher Literatur. Beauvoir befürwortete Geburtenkontrolle und Abtreibung.
Über 40 Prozent der Französ*innen hielten Homosexualität für Krankheit Ein ganzes Kapitel widmet die Pariserin darin auch der «Lesbierin», deren sexuelle Wahl sie als situiert bezeichnete. Das Werk kam auf die Liste der verbotenen Bücher der katholischen Kirche. Und für die Kommunisten und einen Teil der französischen Intellektuellen war der Feind nicht der Mann, sondern der Kapitalismus. Bis Mitte der 70er Jahre betrachteten über 40 Prozent der Französ*innen Homosexualität als Krankheit. (Dort eröffnete die Staatssekretärin die Gleichstellung kürzlich den Kampf gegen Homophobie – MANNSCHAFT berichtete).
Eine Antwort auf die Fragen wird es wohl nicht geben. Auch nicht darauf, ob es eine Simone de Beauvoir ohne Zaza gegeben hätte, wie sich die spanische Zeitung El País fragt. Sicher hingegen ist, dass ihre Beziehung nachhaltigen Einfluss auf die Schriftstellerin und ihren Kampf gegen Unterdrückung hatte.
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