«Pleasure» – Eine queere, interaktive Club-Oper in Erfurt
Am Sonntag wurde Premiere gefeiert
Das ganze Studio des Theaters Erfurt ist Bühne bei der kontinentalen Erstaufführung von Mark Simpsons Oper «Pleasure». Das Opernpublikum betritt den Theaterraum diesmal durch eine Männertoilette.
Von Roland H. Dippel
Und die gehört zu Mila van Daags künstlerischer Ausstattung. Für nicht-queere Personen könnte das wandfüllende Gesichtsgraffiti von Maria Callas über den Metall-Urinalen deplatziert wirken. An der Bar gibt es für alle Karteninhaber ein Freigetränk. Auf einem Monitor rollt Andy Warhols zu Nacktszenen allzeit bereiter Lieblingsschauspieler Joe Dallessandro Augen, Arme und Hüften.
Es gibt einen Präser-Automaten, und Plakate werben für Community-Events im Raum Erfurt. Das Publikum wird selbst zu einem Teil der Party People und den Schönen der Nacht. Aber es gibt keinen DJ-Turm. Dafür sitzt die kleine Orchester-Besetzung aus dem Philharmonischen Orchester Erfurt in einer Gitterzelle und spielt live.
Stefano Cascioli hat am Pult mit Brio und Pathos alles im Griff. Der 34-jährige britische Komponist Mark Simpson wurde zu «Pleasure» durch Streifzüge im schwulen Nachtleben Liverpools inspiriert. Viele Anwesende sind nicht nur von der menschlichen Wende der Oper am Ende, sondern auch von der Intimität und Erotik einiger Szenen berührt. Was am englischsprachigen Textbuch und den deutschen Surtitles liegt: Melanie Challenger lieferte mit ihrer poetischen Prosa tolles Kreativfutter für die von der Opera North, Aldeburgh Music und the Royal Opera House in Auftrag gegebene Partitur, die am 28. April 2016 in den Leeds Howard Assembly Rooms Premiere feierte.
Der bei den Erfurter Schlussproben anwesende Komponist gehört zu den umworbenen Jung-Komponisten. «Pleasure» zeichnet sich durch eine in der Klassik-Szene ungewöhnliche starke Erfindungskraft aus. Simpsons Violinkonzert gelangt im März in Amsterdam und Köln zur Aufführung. Der konzeptionelle Überbau von «Pleasure» ist in Erfurt fast vormodern. Nach mehrfacher Verschiebung finden die Vorstellungen in einer Spielzeit mit ausschliesslich griechischen Sujets statt. Natürlich kann man sexuelle Kontakte unter Männern wie in der Vergangenheit blumig als «griechische Liebe» bezeichnen.
Wichtiger aber ist die Ableitung der Opernhandlung vom altgriechischen Mythos des Schmiede- und Waffengottes Hephaistos, den seine Mutter Hera wegen einer Verkrüppelung am Fuss ablehnte und deshalb aus dem Olymp in die Tiefe warf. Versetzt in den Club «Pleasure», der in Erfurt – schliesslich sind seit der Uraufführung fast sieben Jahre vergangen – vom Gay Club zum LGBTIQ-Club wird.
Am Geschehen ändert das nichts. Der alternde Travestie-Star Anna Fewmore glaubt nicht mehr an die sinnliche Lust, die er in seinen Songs vergöttert und mit deren Verheissungen er die Gäste zu Ausschweifungen befeuert. Seit Jahren ist die Toilettenfrau Val die Seelentrösterin all jener ungeküssten Prinzen, deren Lust im «Pleasure» weder Erfüllung noch Ewigkeit findet. Val begegnet bei der Arbeit zufällig ihrem eigenen Sohn Nathan.
Diesen treibt es in seiner Unfähigkeit zu Zärtlichkeiten in den Club, obwohl er nicht queer ist. Bei Nathan brechen die Dämme: Erst rührt ihm der promiske Mat an Haut und Seele, später muss er in Val seine seit der Kindheit vermisste Mutter erkennen. Er stammt aus der toxischen Ehe eines notorisch gewalttätigen Preisboxers und seiner unreifen Geliebten. Zur Erziehung kam er in fremde Hände. Auf der Männertoilette tut Nathan sich Schreckliches an…
Während der Proben unternahm der Cast einen «Betriebsausflug» zum Drama Drag Bingo im Kickerkeller Erfurt und zur Berliner Drag Queen Candy Cockwell. Dafür kommen einige passionierte Stammgäste der Erfurter Queer Parties mit ihren besten Outfits in die Vorstellungen. Als kompetente Edelkomparserie machen sie das gleiche wie im Club: flirten, gruppenkuscheln, tanzen. Ein Opernfest der besonderen Art also, auch für die Hauptdarsteller.
Wenn der schwule Mat dem nicht-schwulen Club-Debütanten Nathan mit den Fingern über den nackten Unterarm streicht, knistert es. Für die Sänger Emanuel Jessel und Robin Grunwald ist die Situation in diesem Fall ungewohnt. Nicht etwa, weil intime Momente unter Männern für professionelle Sänger schwierig wären. Diese gehören durch neue Opern wie Peter Eötvös‘ «Angels in America» (ab April in Bremen) oder Andrea Lorenzo Scartazzinis «Edward II», aber auch Klassiker wie Tschaikowskis «Eugen Onegin» und Brittens «Tod in Venedig» (ab Mai in Halle) zum künstlerischen Kerngeschäft.
Aber sogar nach der Premiere wird jeder Abend anders. Denn wegen der Menschen im Raum bahnen sich die beiden immer andere Wegen zueinander – oder voneinander weg. Solche Situationen finden auch Theatergänger prickelnd, die nichts mit Nightlife und Party zu tun haben. Denn selten erlebt man Opernsänger derart hautnah in praller Aktion. Deshalb gibt es auf den im ganzen Studio verteilten Monitoren auch keine Videoclips, sondern die Liveschaltung auf den Dirigenten. Der gibt dem Ensemble Sicherheit in der letztlich abenteuerlichen Spielsituation.
Regisseur Cristiano Fioravanti begeistert sich für solche ungewöhnlichen Spielräume. Man merkt das grosse Vertrauen zwischen ihm und dem Ensemble. Wichtig ist es in der Nähe zum Publikum, nicht zu übertreiben und plakative Theatralik zu vermeiden.
Katja Bildt, der Sängerin der Val, und Máté Sólyom-Nagy als Dragqueen Anna Fewmore springt am Ende das blanke Entsetzen aus den Augen – und den Stimmen. Die Club-Illusion trägt auch über das Verklingen der Musik. Diese ist ganz grosse Klasse. Simpson setzt bizarre Streichersoli und bringt Klarinetten-Melodien zum glühenden Leuchten. Die Orchester-Combo generiert Techno-, Pop- und Rockbeets mit imponierend fix wechselnder Band- und Farbbreite. Mark Simpson ist ein neues Paradebeispiel dafür, was für tolle musikalisches Kicks aus Liverpool in die Klassikszene knallen.
Und es bleibt spannend zu erfahren, wer aus der LGBTIQ-Community es nach Erfurt ins «Pleasure» schaffen wird. Insgesamt gibt es dort fünf Clubabende am 21., 27. Januar – 4. Februar – 10., 30. März- Weitere Informationen
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