Olympia 2022: «Es reicht nicht, den Fernseher auszuschalten»
Ahima Beerlage macht sich Gedanken zu den Spielen in Peking
Ebenso wie 1936 bieten die Olympischen Spiele einem Unrechtsstaat eine internationale Bühne, schreibt Ahima Beerlage in ihrem Samstagskommentar*. Der Motor für diesen Missstand sei die Kommerzialisierung des internationalen Sports.
«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.» Mit diesem Satz beginnt der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Dieses 30 Artikel umfassende Dokument war zwischen 1946 und 1948 von der UN-Menschenrechtskommission zusammengesetzt aus 18 Staaten erarbeitet worden. Den Vorsitz hatte immerhin die Menschenrechtsaktivistin Eleanor Roosevelt, die viele für bisexuell halten.
Ziel war einst Völkerverständigung Unter dem Eindruck der verheerenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg und dem weiter schwelenden Konflikt zwischen Ost und West sollte die Erklärung einen völkerrechtlichen Leitfaden darstellen, der eine Art Weltfrieden schaffen sollte.
Doch schon damals waren die Gräben tief, so dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht als Vertrag, sondern lediglich als allgemeine unverbindliche Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde. Mit der Verabschiedung der Erklärung keimte in vielen Ländern jedoch die Hoffnung auf, dass diese Menschenrechtserklärung zu einer Verbesserung rund um den Globus führt.
Doch die Realität im Jahr 2022 sieht anders aus. Die Olympischen Winterspiele finden in China statt. Die Idee der Olympischen Spiele sollte die Menschen friedlich zusammenbringen. Das stärkste Signal sollte die weltweite Waffenruhe während der Spiele sein. Pierre Coubertin, der Pädagoge und Initiator der modernen Spiele, sah darin eine Möglichkeit zur Völkerverständigung.
Gigantomanie und Profitorientierung Das olympische Komitee der Jetztzeit interessiert sich weniger für solche Ideen. Gebeutelt von diversen Korruptionsvorwürfen, geblendet von Gigantomanie und Profitorientierung wurden die Spiele 2015 an China vergeben. Viele demokratische Staaten hatten zuvor abgewunken, weil die Spiele heute vor allem Umweltschäden und Millionenverluste durch gigantische Sportstätten, die später niemand mehr braucht, bedeutet.
China sieht in den Spielen eine Chance zur Verbesserung seines Images und ist daher gern bereit, gigantische Summen auszugeben, um Sportstätten auch gern einmal in Naturschutzgebieten und unter Verdrängung der Bevölkerung zu bauen. Das Volk hat darin keine Stimme und wird ausgeschlossen. Die weltweite Pandemie spielt den Machthabern in China sogar in die Hände, denn Corona erlaubt es dem Regime, die Spitzensportler*innen und ihre Betreuenden von der Bevölkerung fern zu halten. Mit der ganzen Härte eines autoritären Regimes werden Kontrollsysteme aufgebaut, Journalist*innen eng überwacht, den Sporttreibenden unverhohlen gedroht, die Konsequenzen zu tragen, wenn sie frei ihre Meinung äussern.
Nach chinesischem Recht können sie dafür in Haft genommen werden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Artikel für Artikel verstösst China gegen die Menschenrechte. Sie verfolgen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, politischer Anschauungen oder Religion. Berichte über die Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uigur*innen und ihr Eingreifen in Tibet und Hongkong sind die offensichtlichen Verstösse. In den letzten Jahren ist die Unterdrückung der Meinungsfreiheit immer unverhohlener Praxis. Willkürlich werden Andersdenkende verfolgt, Internet und Presse zensiert.
Freiheitsrechte wie die Versammlungs-, Vereinigungs-, Religions- und Reisefreiheit sind stark eingeschränkt. Folter ist zwar offiziell verboten, aber es gibt durch Amnesty International belegte Berichte, dass Polizist*innen Geständnisse durch Folter erzwingen. Andersdenkenden droht sogar die Todesstrafe.
Schwierige Lage für LGBTIQ Für die LGBTIQ-Community ist der Alltag ebenso nicht sicher. Zwar ist Homosexualität nicht offiziell illegal und sie wurde 2001 auch von der Liste der psychischen Krankheiten genommen. Da das Regime aber alle Menschen, die von der Norm abweichen, misstrauisch beäugt und auch unter ihre Kontrolle bringen will, werden zunehmend queere Medien verboten.
Die Internetplattform «LGBT Rights Advocacy China» ging im November 2021 offline (MANNSCHAFT berichtete). Sie vertrat die Rechte schwuler, lesbischer, bisexueller und transgeschlechtlicher Chines*innen. Eine Erklärung für diesen Vorgang wagten die Betroffenen nicht. Unternehmen wie Coca-Cola, Starbucks, H&M, L’Oréal und TikTok, die in anderen Ländern durchaus eine Politik der Vielfalt und Inklusion für ihre Mitarbeitenden eingeführt haben, lassen sich von den riesigen Gewinnchancen blenden und verzichten auf diese Freiheiten für ihre Niederlassungen in diesem Land.
In China sind LGBTIQ-Personen besonders heftigen Diskriminierungen ausgesetzt. Hauptsponsoren der Olympischen Spiele wie Coca-Cola dulden das widerspruchslos. Die Kampagne «All Out» – eine globale Bewegung, die sich für LGBTIQ-Rechte einsetzt – hat sich mit chinesischen Aktivist*innen zusammengetan, um die Weltunternehmen öffentlich an ihre Sorgfaltspflicht gegenüber ihren LGBTIQ-Beschäftigten zu erinnern, denn diese international agierenden Unternehmen könnten den Weg ebnen, die harte Linie der chinesischen Gesellschaft und der politischen Führung gegenüber LGBTIQ-Personen aufzuweichen. Denn diese Atmosphäre der Angst für diese Personen führt dazu, dass sich nur wenige Menschen aus der LGBTIQ-Community gegenüber ihrer Familie outen und noch weniger von ihnen sich am Arbeitsplatz zu ihrem Anderssein bekennen.
Athlet*innen zahlen Preis Wir wissen davon. Es reicht also nicht, den Fernseher auszuschalten, wenn das Logo der Olympischen Spiele auftaucht. Ebenso wie 1936 bieten die Olympischen Spiele einem Unrechtsstaat eine internationale Bühne. Der Motor für diesen Missstand ist die Kommerzialisierung des internationalen Sports. Dem olympischen Komitee und der Sportartikelindustrie sowie anderen weltweit operierenden Unternehmen ist es offensichtlich wichtiger, einen riesigen neuen Markt zu erschliessen.
Den Preis zahlen die Sportler*innen, die jahrelang hart trainieren, um in diesem einzigartigen internationalen Vergleich eine Medaille zu gewinnen. Sie müssen sich nicht nur von wie Aliens verkleideten chinesischen «Betreuenden» rumkommandieren und im Ernstfall in Hotelzimmer sperren lassen, sie geraten auch ideologisch zwischen die Fronten. Folgen sie ihrem Traum, verraten sie vermeintlich die gute Sache. Schliessen sie sich einem Boykott an, verlieren sie das Ziel ihres jahrelangen Trainings.
Kämpfen bei der Vergabe Doch nicht die Athlet*innen sind die, die auf die Anklagebank gehören. Wenn die olympischen Funktionär*innen aufhören würden, aus lauter Geld- und Prestigegier nach der Pfeife autoritärer Herrscher zu tanzen, würden die Sporttreibenden auch nicht immer in dieses moralische Dilemma geraten, denn auch die Sporttreibenden haben Anspruch auf Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: «Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen die Erklärung verstösst, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.»
Wenn wir auf die Situation der LGBTIQ-Community in China aufmerksam machen wollen, dann sollten wir genau darauf hinweisen und nicht mit dem Finger auf die Athlet*innen zeigen. Und bei der nächsten Vergabe der Spiele sollten wir alle darum kämpfen, dass diese in einem Land stattfinden, in dem die Menschenrechte und der Schutz von LGBTIQ-Personen mehr als nur auf dem Papier existieren, in dem der Sport betrieben werden kann, ohne Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben und die Natur zu zerstören und in dem im besten Fall die neuen Sportstätten der Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden. Aber anfangen sollten wir damit, korrupte und LGBTIQ-feindliche Sportfunktionär*innen aus ihrem Amt zu vertreiben.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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