«Der Cousin» – Über die Flucht eines schwulen Tänzers
Nava Ebrahimi erhält den Bachmannpreis
Transparenz wird gross geschrieben in Klagenfurt. Die öffentliche Diskussion einer Jury über die Güte von Texten ist das Markenzeichen des Bachmannpreises. Dieses Mal ist das Votum knapp: Am Ende gewinnt «Der Cousin» von Nava Ebrahimi. Von Matthias Röder, dpa
Auf der Flucht aus dem Iran in Richtung Kanada werden Mutter und Sohn in Thailand festgenommen und landen im Gefängnis. «Diese sechs Monate wurden zum Sperrgebiet, zum Tschernobyl der Familiengeschichte, die ohnehin an Boden verlor», schreibt Nava Ebrahimi. Bei einer Begegnung mit seiner Cousine tanzt der schwule Kian auf einer Bühne in New York endlich bisher Ungesagtes. Was passierte dem jungen Mann nach der Ausreise mit gefälschten Papieren in einem Männergefängnis in Bangkok? (Danial flüchtete mit 15 Jahren aus dem Iran und landete nach einer langen Odyssee in der Schweiz – MANNSCHAFT+).
Mit ihrem Text «Der Cousin» hat die 1978 in Teheran geborene Schriftstellerin, die in Köln aufgewachsen ist und seit vielen Jahren in Graz lebt, die Jury des Bachmannpreises überzeugt.
Die mit 25 000 Euro dotierte Auszeichnung, einer der wichtigsten Preise der deutschsprachigen Literaturszene, ging damit an eine von vorneherein hochgehandelte und bereits etablierte Autorin. Sie sei eine der spannendsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur, so die Jury.
Der komplizierte und schwierige Text behandle auch eine der aktuellen Kernfragen, nämlich wie viel Show brauche es, damit Botschaften überhaupt noch wahrgenommen würden, so Laudator und Juror Klaus Kastberger.
Es war ein enges Rennen um den Hauptpreis: Mit vier zu drei Stimmen bevorzugte die siebenköpfige Jury Ebrahimi vor der Berliner Autorin Dana Vowinckel. Vowinckel hat in «Gewässer im Ziplock» einen Blick auf die orthodoxe jüdische Szene geworfen. Juror Philipp Tingler aus Zürich war begeistert von den geschilderten Sinneseindrücken wie dem «Krachen der Zähne der Grossmutter auf dem Joghurtlöffel». Ohnehin bewege sich Vowinckel mit ihrem Thema in einem Feld, das aktuell mehr denn je auf Neugierde stosse, befand Kastberger. Die 1996 geborene Schriftstellerin erhielt mit dem Deutschlandfunk-Preis den am zweithöchsten dotierten Preis (12 500 Euro).
Necati Öziri aus Berlin gehört ebenfalls zu den grossen Gewinnern. Er schreibt unter anderem für das Schauspielhaus Zürich, das Maxim Gorki Theater, das Residenztheater München und das Nationaltheater Mannheim. Für die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur las er einen Brief eines todkranken Sohnes an seinen Vater vor. «Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben» ist eine Anklage, eine Abrechnung, eine verzweifelte Verfluchung, wie Juror Michael Wiederstein sagte. Der Vater hatte seine in Deutschland lebende Familie verlassen, um in der Türkei an einer letztlich gescheiterten Revolution teilzunehmen. Der Lohn für Öziri: Der Kelag-Preis (10 000 Euro) und der BKS-Bank-Publikumspreis (7500 Euro).
Ein stiller See, ein Boot und abgründige Gedanken, das sind die Grundelemente der Geschichte von Timon Karl Kaleyta. Der in Bochum geborene Musiker und Sachbuchautor schildert in «Mein Freund am See» wie während einer Bootsfahrt ein Mitfahrer plötzlich daran denkt, seinen Freund Julian am Ruder zu ermorden. Das Urteil der Jury war in der Diskussion höchst zwiespältig. Während die einfache Sprache Kastberger im positiven Sinne an die «Sendung mit der Maus» erinnerte, fand Jurorin Vea Kaiser den Text und dessen Beschreibungen handwerklich «wahnsinnig, wahnsinnig arm». Nichtsdestotrotz: Am Ende bekam Kaleyta den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis.
Wie immer bezog der Bachmannpreis seinen Reiz aus der öffentlichen Diskussion der sieben Literaturexperten, die diesmal nicht online zusammengeschaltet waren, sondern wieder live im Studio diskutierten. Extrem selten sind sie sich einig. Dieses Mal sei es aber gelungen, trotz der teils völlig unterschiedlichen Zugänge «gegenseitig Respekt und Wertschätzung» zu entwickeln und die Perspektive des anderen zu verstehen, sagte die Jury-Vorsitzende Insa Wilke.
Eher unfair behandelt sah sich Autorin Heike Geißler aus Leipzig, die schon 2008 am Wettlesen teilgenommen hatte. Mindestens drei Juroren hätten sich bei ihrer Kritik nicht wirklich auf ihren Text eingelassen. «Und das geht nicht», sagte Geißler im Deutschlandfunk. «Das muss man machen, erst recht, wenn man so prominent ist, und man fällt auf, wenn man es nicht tut.»
Für 2022 hoffen die Veranstalter*innen wieder auf echte Live-Bedingungen. Dieses Mal waren die Lesungen der 14 Teilnehmer*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz coronabedingt aufgezeichnet worden und die Autor*innen zur Diskussion online zugeschaltet.
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