Auf den Spuren von Erika Mann und Therese Giehse in Zürich
Unterwegs in Oerlikon
Wer es etwas kleiner mag als ein Pride-Event mit Tausenden Menschen so wie am Wochenende (MANNSCHAFT berichtete): In Zürich finden immer wieder Lesbenspaziergänge statt. Wir waren beim ersten dieser Saison dabei.
Wolkenverhangener Himmel über Zürich. Es fühlt sich nach Herbst an. Der Vorsommer lässt auf sich warten. Doch die Frauen, die sich an der Ecke Ohmstrasse / Nansenstrasse treffen, lassen sich ihr sonniges Gemüt nicht nehmen.
Zürich ist eine schöne Stadt, auch bei weniger schönem Wetter. Viele alte Gebäude geben sich ein Stelldichein mit Bauten neueren Datums. Wir treffen uns vor einem Restaurant im Stadtteil Oerlikon.
Die beiden Initiatorinnen dieses Spaziergangs, Madeleine Marti, Germanistin, Historikerin, Autorin und aktiv in der Lesbenbewegung, und Monika Saxer vom Bücherraum f, erwarten die interessierten Frauen mit Regenbogenfahnen in ihren Händen.
Zehn Frauen finden sich ein. Es werden gutgelaunt Hände geschüttelt, freundliche Worte ausgetauscht, und dann geht es schon los. Dass dieser Treffpunkt, dieses Haus, für den diesjährigen Spaziergang, ein besonderer ist, darüber klärt Madeleine sofort auf: Hier lebte Ida Erne, und dieses Haus 3 war von 1946 bis 1973 ihr Zuhause.
Die gelernte Kellnerin, 1906 im Aargau geboren und aufgewachsen, ist 1934 nach Zürich umgezogen, und bekannte sich in den 50er Jahren zur Frauenliebe. Darüber schrieb sie den Roman «Anders als die Andern», ein Roman ohne Drama und nicht spektakulär, nein: Ida schrieb nur ihre Empfindungen und ihre Liebesgeschichte nieder.
In den 90er Jahren nahm sie wegen einer eventuellen Veröffentlichung mit Madeleine Marti Kontakt auf, und bat sie um Unterstützung. Doch weil sich «Anders als die Anderen» nicht kämpferisch und spektakulär las, kam es nicht zu einer Veröffentlichung, denn es fand sich schlicht zu der damaligen Zeit kein Verlag.
Doch Madeleine Marti hat sich des Büchleins angenommen, und fand 2020 den Frauenverlag «eFeF» im Aargau, der Ida Ernes Erzählung veröffentlichte. Mittlerweile wurde «Anders als die Andern» ins Französische übersetzt.
Nach diesem interessanten Einstieg geht’s auch schon weiter. Ein geschichtsträchtiger und historischer Weg erwartet die Spaziergängerinnen: Besondere Plätze, besondere Strassen, die für die zeitgenössische Lesbengeschichte der Schweiz von Bedeutung sind, wurden angesteuert und erkundet.
Zum Beispiel die Therese-Giehse-Strasse, die Erika Mann-Strasse und die Ricarda-Huch-Strasse, die heute alle durch ein Industriegebiet verlaufen. Huch kam als deutsche Schülerin nach Zürich und nahm 1888 ein Studium in Geschichte, Philologie und Philosophie auf – im damaligem Deutschland für Frauen ein unmögliches Unterfangen.
Und auch zu Erika Mann und Therese Giehse weiss Madeleine Spannendes zu erzählen: Diese beiden Frauen, die eine lesbische Liebe verband, gründeten 1933 in München das antifaschistische Kabarett «Pfeffermühle», und haben durch ihre Vita einen grossen Bezug zur Schweiz: Durch die politischen Umstände in Deutschland flüchteten sie in die Schweiz, und eröffneten in Zürich ihr Kabarett erneut.
Es entwickeln sich während des Spaziergangs interessante Gespräche und ein intensiver Austausch über die Lesbengeschichte in der Schweiz. Zwischendurch wird auch gescherzt und viel gelacht, und alle haben sichtlich viel Spass beim Schlendern, Plaudern und Erkunden des Weges. Zum Abschluss geht’s in den Bücherraum f: Begegnungsstätte, ein kultureller Treffpunkt, Bibliothek und eine Fundgrube für zeitgenössische Lesben- und Frauenliteratur.
Monika Saxer, die mit Madeleine diesen Spazierweg in Oerlikon zusammen erarbeitet hat, ist selbst Autorin des Lesbenkrimis «Die Lesbenwanderung», und betreut in einem kleinen Team den Bücherraum f. Auf 120 Quadratmetern sind Fundstücke in Form von Büchern, Zeitschriften, Dokumentationen, und vieles mehr, zu entdecken und zu finden.
Doch auch Lesungen und Vorträge finden immer mal wieder in den Räumlichkeiten statt. In diesem Ambiente findet der erste Lesbenspaziergang des Jahres einen schönen Ausklang. Die Frauen plaudern bei einem Apero in gemütlicher Runde, es wird viel gelacht, erzählt, und auch private Themen werden angesprochen. Die Stimmung ist herzlich, mitfühlend, aufgeschlossen und warm.
In einem späteren Gespräch erzählt Madeleine Marti, wie es zu dem ersten Lesbenspaziergang vor 10 Jahren kam. Die Idee kam ihr während eines Urlaubs in San Francisco. Beim Erkunden und Entdecken der Stadt kam die Überlegung selbst Lesbenspaziergänge in Zürich durchzuführen. Sie erarbeitete ein Konzept und wandte sich an Nathalie Raeber und Corinne Rufli.
Mit beiden Frauen hatte sie schon verschiedene Projekte durchgeführt, und mit den Lesbenspaziergängen wurde nun ein weiteres ins Leben gerufen. Zu dritt führten sie in verschiedenen Stadtteilen Zürichs immer wieder ihre Spaziergänge durch: Alle immer gut besucht, und es kam auch schon vor, dass Männer mitspaziert seien. Insgesamt seien die Reaktionen immer positiv gewesen.
Als Lesben müssen wir unsere Geschichte wahrnehmbar machen
«Als Lesben müssen wir unsere Geschichte sichtbar machen, wahrnehmbar machen. Uns ist es wichtig in den Austausch zu gehen, den Dialog zu suchen und miteinander ins Gespräch zu kommen», sagt Madeleine. Und das geschieht generationenübergreifend, wie bei diesem Spaziergang in Oerlikon zu sehen war.
Wer sich für die Lesbenspaziergänge interessiert, wird unter lesbengeschichte.ch fündig. Die Öffnungszeiten des Bücherraums f sind: Donnerstag von 18.30 bis 20.30 Uhr, und Freitag von 14 bis 17.30 Uhr. Doch es sind auch individuelle Besuche nach Vereinbarung möglich, unter [email protected].
Möglicherweise werden bald auch Spaziergänge in Luzern und Bern angeboten. Gespräche darüber sind in Planung.
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