Kulturelle Aneignung – oder Dreadlocks für alle?
Weisse Reggae-Musiker mit Dreadlocks haben eine Debatte um Identität, Kultur und Eigentum entfacht. Die einen sehen in der kulturellen Aneignung die Fortsetzung kolonialer Ausbeutung mit modernen Mitteln, die anderen eine wichtige Kulturtechnik.
Von Andrea Sosa und Denis Düttmann, dpa
Frida Kahlo gilt als Ikone der Frauenbewegung. Die Malerin trug meist traditionelle indigene Kleidung wie die Tehuana der Zapoteken. Lange Zeit wurde die berühmte Künstlerin dafür gefeiert, die Identität der Indigenen sichtbar zu machen – heute könnte Kahlo (1907-1954) dafür allerdings wegen des Vorwurfs der kulturellen Aneignung in die Schusslinie geraten. Denn die Tochter eines deutschen Fotografen und einer mexikanischen Frau wurde als Baby zwar von einem indigenen Kindermädchen gestillt, war selbst aber keine Indigene.
Nach Protesten gegen weisse Musiker mit Dreadlocks hatte zuletzt im deutschsprachigen Raum die Debatte um kulturelle Aneignung an Fahrt aufgenommen. Die queere Bar «Gleis» in Zürich hatte das Konzert von Mario Parizek abgesagt (MANNSCHAFT berichtete). In Bern wurde zuvor ein Konzert der Band Lauwarm abgebrochen, weil sich einige Besucher*innen daran störten, dass sie jamaikanische Musik spielte und die Mitglieder teils afrikanische Kleidung und Dreadlocks trugen. Zuvor hatte die Bewegung Fridays for Future die weisse Musikerin Ronja Maltzahn, die bei einer Demonstration in Hannover auftreten sollte, wegen ihrer Dreadlocks ausgeladen.
Mit kultureller Aneignung ist gemeint, dass Menschen sich einer Kultur bedienen, die nicht ihre eigene ist, zum Beispiel durch Musik oder Bekleidung. Kritisiert wird vor allem, wenn Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sich einzelner Elemente der Kultur einer Minderheit bemächtigen, sie kommerzialisieren und aus dem Zusammenhang reissen.
Friseurin Tanisha Ruddock betreibt in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston den Supertouch Salon. Sie kann die aktuelle Diskussion um Dreadlocks im deutschsprachigen Raum nicht verstehen. «Jeder kann Dreadlocks tragen. Es spielt keine Rolle, woher du kommst. Es kommt darauf an, was du dabei fühlst», sagt sie.
Während die Debatte über kulturelle Aneignung im deutschsprachigen Raum noch relativ neu ist, tobt sie in den USA schon seit Jahren. Die US-Juristin Susan Scafidi schreibt in ihrem Buch «Who Owns Culture?» aus dem Jahr 2005: «Kulturelle Aneignung, das ist: Wenn man sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen.»
Geldstrafe fürs Kopieren kulturellen Erbes Genau das soll nun ein Gesetz in Mexiko verhindern. Wer kulturelles Erbe ohne Zustimmung reproduziert, kopiert oder imitiert, kann künftig mit hohen Geldstrafen oder sogar bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Dadurch soll das kollektive geistige Eigentum der Urvölker geschützt werden, was international nicht einfach durchzusetzen ist.
Luxusmodemarken wie Carolina Herrera und Louis Vuitton sowie globale Fast-Fashion-Ketten hatten zuvor mehrmals die Muster indigener Textilien für ihre Produkte kopiert – ohne Absprache mit den Gemeinden und ohne Zahlung. «Sie behaupten, sie hätten sich davon nur inspirieren lassen, aber das ist Plagiat», sagt die mexikanische Anthropologin Marta Turok. Kulturelle Aneignung bedeutet für sie hauptsächlich die Kommerzialisierung einer Tradition ohne ausdrückliche Zustimmung ihrer Schöpfer.
Das Tragen von traditioneller Kleidung durch Weisse hingegen kann man ihrem Verständnis nach nicht auf die gleiche Stufe stellen, weil durch ein Verbot auch die Lebensgrundlage von Tausenden von Handwerkern in Gefahr geriete. «Die Diskussion in Europa um die Dreadlocks und den Reggae bringt uns an die Grenzen», sagt Turok. «Da ist die Büchse der Pandora geöffnet worden.»
Die Skandalisierung der kulturellen Aneignungen weist eine Reihe von Absurditäten auf.
Auch die deutsche Ethnologin Susanne Schröter findet die Diskussion um kulturelle Aneignung, wie sie derzeit geführt wird, problematisch. «Die Skandalisierung der kulturellen Aneignungen weist eine Reihe von Absurditäten auf. Eine betrifft die Folgen, die sich ergeben, wenn man die geforderten Nutzungsbeschränkungen zu Ende denkt. Dann müssten bei jedem Gegenstand, jedem Stil, jeder Form kulturellen Ausdrucks die Urheber ausfindig gemacht und ihr Gebrauch auf diese Urheber beschränkt werden», sagt die Professorin der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität. «Fussball dürfte dann nur von Engländern, klassische Musik nur von Europäern gespielt und Blue Jeans nur von Amerikanern getragen werden. In letzter Konsequenz dürften auch technische Errungenschaften und Konsumgüter jeglicher Art nur in den Ländern genutzt werden, die sie entwickelt haben.»
Kulturelle Aneignung ist für die Wissenschaftlerin grundsätzlich eher etwas Positives. «Menschen haben stets Dinge von anderen übernommen, wenn sie diese für sinnvoll erachtet haben. Um es auf den Punkt zu bringen, ist die gesamte Menschheitsgeschichte eine Geschichte kultureller Aneignungen, ohne die es keine Entwicklung gegeben hätte», sagt Schröter. «Dazu kommt, dass Aneignung stets eine gewisse Wertschätzung beinhaltet. Wenn man eine Gruppe von Menschen zutiefst ablehnt, wird man von ihnen nichts übernehmen. In einer Welt, die allein durch die sich beschleunigende Globalisierung immer vielfältiger wird, ist kulturelle Aneignung wohl die wichtigste Kulturtechnik, die ein friedliches Zusammenwachsen möglich macht.»
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