Hape Kerkeling: «Zeit gekommen, dass ich darüber sprechen kann»
Der Komiker überrascht mit spannender Familiengeschichte
Hape Kerkeling hatte am Sonntag mit seinem neuen Buch Deutschlandpremiere. Er sprach über sein Outing, das Bordell seines Vorfahren und: Er wünschte sich mehr Toleranz in unserer Gesellschaft.
Schon als kleiner Junge wusste er: «Ich will hier nicht mehr weg!» Da sass er mit seinen Eltern in Amsterdam. So schön fand er es dort, dass ihm intuitiv klar wurde: Dies ist mein Ort. Da war ihm längst noch nicht bewusst, dass ein Grossteil seiner Familie von dort stammte. Dass er das liberale Lebensgefühl schätzen lernen sollte und, dass er später im Leben dort eine frühe tiefe, aber umso dramatischer endende Liebe erleben sollte. Amsterdam, wie sicher auch manch anderer Ort in seinem Leben, wurde für ihn ein Fluchtpunkt: Jenseits deutscher Spiessigkeit. «Irgendwie kriege ich hier besser Luft», sagt er rückblickend in seinem Buch über die Stadt.
Davon erzählte Hape Kerkeling am Sonntagabend bei der «Schönen Lesung» des rbb in Berlin. Der Saal jubelte schon ausgelassen, als er auf die Bühne kam. Mit Lesereisen hat Hape durch seine Bucherfolge von «Ich bin dann mal weg» und »Der Junge muss an die frische Luft» schon einige Erfahrung gesammelt. Auch wenn er ja den grössten Teil seiner Karriere auf Bühnen und vor Kameras verbracht hat, sei das Schreiben aber dann doch «für mich die elementarste Kunst», wie er gestern erklärte. Auch seine Sketche seien eigentlich nur das Aufführen des vorher Geschriebenen gewesen. Es habe sich halt niemand anders gefunden, der sie sonst aufführen könne.
Sein neuestes Buch, das er in Berlin das erste Mal vor Publikum vorstellte, hat gleich drei Ebenen. Eine Familiengeschichte, die mehrere Jahrhunderte zurückgeht, ein Rückblick auf seine Anfänge auf der Bühne und auch eine private Love Story. Der Ausgang für dieses Buchprojekt war ein DNA-Test, den er für sich machen liess und bei dem er herausfand, wie regional weit verstreut seine Vorfahren gelebt hatten. Dann nutzte er die Zeit der Corona-Pandemie, um akribisch die Leben seiner Vorfahren zu recherchieren.
Das wird deutlich, wenn Hape aus seinem Buch vorliest. Etwa den Ausschnitt, als er von seinem Ahnen aus dem 16. Jahrhundert in Amsterdam berichtet, der ein «Hutgeschäft» hatte. Dieser habe aber wohl keine Hüte verkauft, denn diese Bezeichnung, erklärt Hape, sei vielmehr der Deckname für Bordelle gewesen. Auch in einem «Vogelgeschäft» habe man keine Vögel gekauft, sondern sei dort zum Beten hingegangen. Es habe sich dabei nämlich um versteckte katholische Kirchen gehandelt.
Aus diesen anekdotenhaften Details entwickelt Hape in seinem Buch Szenen, in denen einzelne Vorfahren aus seiner Familiengeschichte auftauchen. Hier kommt gerade sein Talent zum Tragen, entlang von recherchierten Fakten Figuren zum Leben zu erwecken und sie lebendig Geschichten erzählen zu lassen, wie er es mit seinen Bühnenfiguren auch schon getan hat.
Diese schrägen und überraschenden Fakten sind sehr unterhaltsam, wie auch die Reaktionen im Saal gestern Abend gezeigt haben. Etwa, dass die eigene Oma Bertha offenbar die uneheliche Tochter des englischen Königs Edwards VII. gewesen sein müsse. Auch ihre Ahnenfolge hat er detailliert nachverfolgt. Scherzhaft fügt er hinzu: «Meine Oma hat schon immer eine grosse Ähnlichkeit mit dem Herzog von Kent gehabt». Als er sie darauf angesprochen habe, sei sie dann jedoch sehr schmallippig geworden.
Mit diesen Geschichten bleibt Hape aber nicht auf der Ebene des Entertainments. So macht er etwa deutlich, welche Rolle das Schweigen und das sich bedeckt halten in der Familie gespielt habe. Ein Vorfahre war Katholik und musste sich im protestantischen Amsterdam behaupten. Eben jene Oma Bertha habe nie darüber reden können, uneheliches Kind gewesen zu sein. Auch Hapes Grossvater habe für seine Zeit im KZ als Kommunist keine Entschädigung bekommen und diese Geschichte ewig mit sich herumgetragen. «In meiner Familie wurde immer verstecken gespielt. Ich hoffe, dass ich diesen Bann des Versteckspiels nun habe brechen können». Nicht zuletzt spiegelt sich dies natürlich auch in Hapes eigenem Leben wieder.
Vor dem Saalpublikum in Berlin sprach er dann auch offen wie nie über seine Homosexualität. Er beschreibt, wie er im TV-Geschäft der 80er und 90er Jahre von Sendern gedrängt wurde, eine Scheinbeziehung mit einer Frau einzugehen. Oder ihm Regisseure sagten, er solle «nicht ganz so schwul agieren». Seine Oma – die mutmassliche Nachfarin des englischen Königs – hatte ihm schon früh gesagt: Für die Familie sei das kein Problem, aber für die Welt da draussen schon.
Ein Einschnitt war dann das Zwangsouting 1991 durch Rosa von Praunheim, was Hape erstmal Angst gemacht habe, wie er gestern erklärt hat. Aber es habe ihn auch dazu genötigt, damit offensiv umzugehen. Gleichzeitig habe er es jedoch bisher lange in seinem Leben als unangenehm empfunden, über seine Sexualität zu sprechen – «auch als Heterosexueller hätte ich darüber damals nicht gesprochen», sagte Hape gestern in Berlin.
Mit seinen knapp 60 Jahren sei er aber nun soweit, dass er sagen könne: «Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass ich darüber sprechen kann, will und möchte. Und jetzt erachte es auch als nötig». Dafür habe er eben Zeit gebraucht, sagt er. Nun wolle er sich die Hoheit über sich selbst und das eigene Bild zurückerobern.
So ist seine Outingserzählung ein Aufruf für Toleranz an die Lesenden, an die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft, offen für seine homosexuelle Perspektive zu sein. Aber auch einer an manche in der queeren Gemeinschaft, die späte, selbstgewählte Offenheit dieses queeren Promis als solche und auch dessen Geschwindigkeit zu akzeptieren – ihm seine Zeit zu lassen. Dass die rührende Liebesgeschichte in dem Buch, die mit dem schrecklichen Aids-Tod des Geliebten endet, in Berlin nicht vorkam, ist schade und hätte diesem Thema noch mehr Tiefe geben können.
Es geht Hape, so wird es an dem Abend deutlich, mit seinem Buch um die Suche nach der eigenen Identität, des Erbes, der Herkunft und der Prägung. Es passt somit besonders gut in die aktuelle Zeit der Identitätsdebatten und der damit verbundenen Anfeindungen. Auch der Titel «Gebt mir etwas Zeit» – eigentlich der Slogan des Hutgeschäfts (also des Bordells) des Vorfahren – trifft eine aktuelle gesellschaftliche Stimmung. Denn die manchmal giftigen Debatten haben natürlich auch mit der hohen Geschwindigkeit in der Gesellschaft zu tun, infolge der dann vor dem ersten Reflex kaum noch einmal nachgedacht wird. Das Buch ist ein Plädoyer für Gelassenheit in Zeiten des gesellschaftlich hektischen, verletzenden Aufeinandereinbrüllens.
«Die Urmutter aller Erdbewohner war Afrikanerin», die nur überlebte, weil sie offen für Veränderungen der Umwelt gewesen sei, las Hape in Berlin aus seinem Vorwort vor. So ist das Buch auch ein Appell für Vielfalt in der Gesellschaft. Es ist der Versuch, dem gesellschaftlichen Trend der Schliessung, Ausgrenzung, der unterkomplexen Selbstvergewisserung und dem um sich greifenden Reinheitsfanatismus etwas entgegenzusetzen. Er tut dies, indem er den Blick auf seine Vorfahren richtet, besonders auch auf die Komischen und Gescheiterten, von denen man oft aber am meisten lernen kann. Auf jene, die «anders» waren – oder nur auf den ersten Blick so schienen.
Hape Kerkeling – Gebt mir etwas Zeit, Piper, 368 Seiten, Fr 34.90 / 24 Euro
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