Grindr-Screenshots und Dragkunst: Der Fotograf vor der Linse
Daragh wollte die Profilbilder ohne Vorurteile oder Wertungen dokumentieren
Das eigene Grindr-Profilbild als Inspiration. Sich geknebelt einer Dragqueen unterwerfen. Der irische Fotograf Daragh Soden scheut nicht davor zurück, sich in seinen Bildern selbst einzubringen.
Daragh, was fasziniert dich an Dragqueens? Ursprünglich fühlte ich mich von den Dragqueens in queeren Clubs angezogen und von der Art, wie sie in Erscheinung traten. Zu jener Zeit habe ich selbst versucht, etwas in mir auszudrücken und ich vermute, dass ich mich von ihrer fliessenden Identität inspirieren liess, die sie für sich schufen und zugleich auf der Bühne präsentierten.
Natürlich spielt eine gewisse Bewunderung mit: Obwohl die Dragkunst frivol und extravagant wirkt, hat sie eine lange Geschichte als zutiefst persönlichen und politischen Akt. Über mehrere Jahre hinweg fotografierte ich Drag-Künstler*innen und andere queere Menschen.
Für deine Serie «Ladies and Gentlemen» hast du dich selbst zum Motiv deiner Fotos gemacht. Warum? Ich begann mit einfachen Porträts, war aber schnell unzufrieden und frustriert, weil die Bilder immer wieder exotischen Klischees verfielen. Obwohl ich eine Beziehung zu den Menschen in meinen Fotos aufbauen konnte, blieb eine gewisse Distanz zwischen uns. Statt mich also hinter der Linse zu verstecken, entschied ich mich dazu, meine Rolle als Fotograf vor und nicht hinter der Kamera zu spielen.
So wie die Drag-Künstler*innen Fragen zu Geschlechterrollen aufwarfen, wollte ich mich selbst in Frage stellen und diese unangenehme «Distanz» zwischen Subjekt und Fotograf thematisieren. Mit einer Reihe unterschiedlicher Dynamiken, von passiver Unterwerfung bis hin zu männlicher Dominanz, versuche ich die Machtverhältnisse, die dem Akt der Fotografie innewohnen, zu unterbrechen und demontieren.
Inwiefern waren deine ersten Bilder der Dragqueens klischiert? Es frustrierte mich, dass meine Bilder exotisch aussahen oder «das Andere» darstellten, obwohl ich mich mit den Themen identifizieren konnte. Indem ich mich selbst ins Bild setze, hoffe ich, die Aufmerksamkeit des Publikums auf diese «Distanz» zu lenken und es zum Innehalten und Nachdenken zu bringen.
Das irische Fotografie-Festival «PhotoIreland» stellte «Ladies and Gentlemen» diesen Sommer aus. Herzlichen Glückwunsch! Wie reagierten die Besucher*innen? Danke! Ich habe mich über die grosse Unterstützung von «PhotoIreland» gefreut, wo ich diese Serie zum ersten Mal ausstellen konnte. Die Reaktionen des Publikums waren unterschiedlich, da alle ihre eigenen einzigartigen Umstände und Erfahrungen als Referenz mitbrachten. Einige bewunderten die Drag-Künstler*innen und queeren Menschen, mit denen die Fotos entstanden, während andere von meiner Anwesenheit im Bild fasziniert waren. Die Reaktionen waren von Neugierde geprägt. Die Leute hatten viele Fragen, von denen ich einige beantworten konnte, andere wiederum an sie zurückverwies, damit sie sich diese selbst stellten.
Deine Serie «Looking for Love» dreht sich um Liebe. Wie kam sie zustande? Sie entstand im Rahmen einer Gruppenausstellung über Soho in der Photographers’ Gallery in London. Ich nahm den Auftrag an und machte das, was ich zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben machen wollte. Es geht in «Looking for Love» mehr um mich als um Soho. Ich bin sogar auf zwei Bildern in der Ausstellung zu sehen. Als ich jedoch durch das Viertel lief und Paare in Bars und Restaurants beobachtete, fragte ich mich, unter welchen Umständen sie wohl zusammengekommen waren. Ich glaube, dass ich schliesslich etwas von mir selbst auf die Paare und Einzelpersonen projizierte, die ich fotografierte. Vielleicht fühlte ich mich aber auch nur zu ihnen hingezogen . . .
Ob Neugierde, Hormone oder einfach nur Anziehung: Teil der Serie ist auch ein Kurzfilm, der über die Liebe sinniert. Woher stammen Text und Musik dazu? Den Erzähler traf ich in meiner ersten «Shooting»-Nacht in Soho, obwohl ich an jenem Abend keine Fotos machte. Ich besuchte ein traditionelles Pub, in dem jeden Sonntagabend ein Karaoke-Event mit den Namen «Bearoke» stattfindet. Ich war nervös und fiel auf, weil ich jünger aussah als die meisten Stammgäste. Ein älterer Mann sprach mich an und fragte, ob ich allein sei. Als ich bejahte, stellte er mich gleich der Hälfte des ganzen Raumes vor. Ich fragte ihn, ob ich ihn beim Singen filmen dürfe. Er sang «Can’t Help Falling in Love with You» und die Aufnahme liefert den Soundtrack zum Video. Dann fragte ich ihn, ob ich ihn und seinen Partner über ihr Leben und ihre Liebe interviewen könnte. Sie luden mich zum Essen bei sich zu Hause ein. Wir unterhielten uns, während das Diktiergerät aufnahm.
Welche Rolle spielen die Grindr-Screenshots in der Serie? Es war mir wichtig, die Grindr-Screenshots – mein eigener ist übrigens auch dabei – in der Ausstellung zu zeigen, da Soho geschichtlich gesehen ein Safe Space für die LGBTIQ-Community ist. Während Jahrzehnten war die Old Compton Street das stolze Herz der schwulen Szene, sie überlebte Hassdelikte, wie etwa den Anschlag auf das Admiral Duncan Pub 1999. Während ungeoutete Männer und Frauen früher nur im Schutz der Dunkelheit durch bestimmte Seitenstrassen Sohos schlendern konnten, nutzen heute Menschen aus allen Gesellschaftsschichten sicher und anonym Social-Media-Apps, um zu chatten, Bilder auszutauschen, sich zu treffen und ihre Identität offenzulegen – sofern sie das wollen.
Und doch zeigen deine Screenshots auch Profilbilder ohne Gesichter. Die anonymen Profilbilder wirkten auf mich oft wie faszinierende Abstraktionen. Die in den Profilen enthaltenen Informationen sind oft eine Art Code, der körperliche Merkmale, die Entfernung zu anderen Nutzern und detaillierte sexuelle Vorlieben beschreibt.
Ich wollte die flüchtigen Profilbilder ohne Vorurteile oder Wertungen dokumentieren. Diese Bilder, die von einem realen menschlichen Verlangen nach Kontakt sprechen, existieren nur virtuell und verschwinden meist innerhalb weniger Tage oder Stunden. Ich wählte Profilbilder, die ich inhaltlich und von der Form her interessant fand, aber trotzdem anonym waren – ich will ja niemanden outen. In Form von Leuchtkästen in der Ausstellung konnte ich diesen Bildern etwas Dauerhaftigkeit verleihen.
Du hast in London gewohnt, jetzt in Paris. Wie lebt es sich dort für einen irischen Fotografen? Bevor der Brexit und die Pandemie gleichzeitig einschlugen, hatte ich das Gefühl, dass London und Paris eng miteinander verbunden waren. Schliesslich bringt dich der Eurostar in zwei Stunden von der einen Stadt in die andere. Als irische Person fühlte ich mich in beiden Städten willkommen, was aber nicht immer der Fall war. Ich glaube, dass beide Städte weiterhin als kreative und kulturelle Schmelztiegel dienen werden.
Daragh Soden
Arbeitslosigkeit, Immobilienkrise und Sparmassnahmen: Mit seiner Fotoserie «Young Dubliners» über Teenager während der Rezession in Irland erregte Daragh Soden 2016 – damals noch Student der Dokumentarfotografie – nationale Aufmerksamkeit in Irland und Grossbritannien. Der Ire arbeitet gerne im Bereich Mode, Kunst, bewegte Bilder, Prosa und Gedichte und stellte in Irland, Grossbritannien und Frankreich aus. Seine Werke wurden mit den British Photography Awards und dem Jury Grand Prix des «Hyères International Festival of Fashion and Photography» ausgezeichnet. daraghsoden.com
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