Wenn die schwule Abschleppkultur zur Sucht wird

«Ich trainierte, um anderen Männern zu gefallen – aber diese Wertschätzung war an die Bestätigung anderer gekoppelt.»

Noch muskulöser, noch männlicher: Für Lester Brathwaite wurde Onlinedating zur Sucht. (Foto: Lester Brathwaite/zvg)
Noch muskulöser, noch männlicher: Für Lester Brathwaite wurde Onlinedating zur Sucht. (Foto: Lester Brathwaite/zvg)

Nonstop-Dating auf dem Smartphone und dem Computer: Der New Yorker Lester Brathwaite hat einen Schlussstrich gezogen.

Sex war nie wirklich ein angenehmes Erlebnis für mich. Auch wenn es ein grundlegendes Bedürfnis meines Wesens als schwuler Mann – ja als Mensch – ist, konnte ich mit dem Faktor «Spass» nie wirklich etwas anfangen. Versteh mich nicht falsch. Das gute alte Rammeln habe ich schon immer genossen (schliesslich bin ich von Grund auf Romantiker), aber die Vorstufe davon und die Konsequenzen danach überwiegen meine Freude daran. Die Jagd auf Männer ist erschöpfend. Die Begegnung flüchtig. Die Einsamkeit schleicht sich herein. Und dann fängt alles wieder von vorne an. Der Teufelskreis dreht sich weiter. Wie bei jeder Sucht gibt es einen Zyklus.

Dating in einer kopflosen Welt Für mich ist der Ablauf des «Abschleppens» zur Sucht geworden. Eine Sucht, angetrieben von Unsicherheiten. Die Unsicherheiten, die mit der Identität des schwulen Mannes einhergehen. Die Unsicherheit, dass du nicht männlich genug bist, wenn Männlichkeit von dir erwartet – ja ausdrücklich verlangt – wird, und zwar von niemand Geringerem als von anderen schwulen Männern. «Männlich, muskulös» steht auf jedem Profil. Männlich. Muskulös. Der gestählte Oberkörper prominent im Profilbild. Unerkennbare Gesichtszüge oder gänzlich ohne Kopf. Das ist das gesichtslose Gesicht des Abschleppens im 21. Jahrhundert.

Die Betonung auf Anonymität und Männlichkeit erzeugt Homophobie innerhalb der Schwulenszene. Egal, wie der Sex zwischen zwei (oder mehreren) Männern aussieht: Von klein auf wird uns beigebracht, Männlichkeit anzustreben und das, was als Gegenteil davon aufgefasst werden könnte, zu vermeiden. Weiblichkeit ist eine Schwäche, unerwünscht, ein Lusttöter. Von den lächerlich aufgeblasenen Brustmuskeln des «Tom of Finland» bis hin zu den modellierten Oberkörpern auf Grindr: Schwule Männer haben die Übermännlichkeit schon immer angepriesen, aber diese Begeisterung zwingt diejenigen von uns, die nicht in diese starre Geschlechterrolle hineinpassen, sich zu entscheiden. Sich anzupassen oder zu rebellieren. Ich habe beides ausprobiert und kann aus Erfahrung sagen: Es braucht einen wahren Mann um eine Queen zu sein…

Rassismus oder Vorliebe? Meine Liebelei mit dem Abschleppen begann in der Highschool. Vor Grindr, vor Gayromeo, vielleicht sogar vor Craigslist (ein virtuelles Anschlagbrett für anonyme Anzeigen in den USA, Anm. d. Red.). Das heute eingestellte Magazin XY, das ich ab und zu mit mehr als nur etwas Scham kaufte, hatte Kontaktanzeigen mit Links ins Internet. Ich schlich mich auf den PC eines Freundes, aufgeregt, Gleichgesinnte zu finden. Das war alles neu für mich, aber schon damals war ich konfrontiert mit der Macht des Internets bezüglich den Idealvorstellungen der Menschen: «keine Schwarzen, keine Asiaten, keine Dicken, keine Femininen».

Ich habe unzählige Stunden damit verbracht, auf mein Smartphone zu starren, ob alleine oder in der Gesellschaft von Freunden, die ich unhöflich ignorierte.

Lester Brathwaite

Der Rassismus unserer schwulen Abschleppkultur, getarnt als «Vorliebe» ähnlich wie Grösse und Haarfarbe, ist ein Streitpunkt, mit dem ich seit jeher meine Mühe habe. Die Diskussion darüber ist mir verleidet, aber sie gehört zu meinem Argument: Wir werden zu schlimmen Menschen, wenn wir eine virtuelle Welt von Männern an unseren Fingerspitzen haben, dazu noch mit einem Deckmantel der Anonymität. Das Internet propagiert unrealistische Ansprüche an den Wunschkörper, treibt die Liste von Anforderungen ins Unendliche und fördert die Abschottung meiner schon abgeschotteten Generation. Ich habe unzählige Stunden damit verbracht, auf mein Smartphone zu starren, ob alleine oder in der Gesellschaft von Freunden, die ich unhöflich ignorierte. Wie ein Sklave habe ich ziellos durch die immer gleichen Profile gestöbert, meine Zeit verschwendet und Löcher in mein Selbstvertrauen gebohrt. Mit welchem Ziel? Sex? Vielleicht. Liebe? Wohl kaum. Bestätigung? Wahrscheinlich.

Stundenlanges Posieren für Oben-ohne-Pics Jede Sucht hat ihre entsprechenden Highs. Typen, die mir sagten, wie sexy ich sei, wie süss ich sei, wie toll mein Körper sei, gaben mir das Gefühl der Zufriedenheit. Ich trainierte, um anderen Männern zu gefallen. Durch das Training bekam ich ein gutes Gefühl, aber diese Wertschätzung war an die Bestätigung anderer gekoppelt. Ich hätte mich stundenlang im Spiegel beobachten und posieren können, bis ich das perfekte Profilbild gemacht hatte. Wieso sollte ich glauben, attraktiv zu sein, wenn es mir niemand sagte? Mein Ego war so aufgeblasen wie die Brustmuskeln der Motorradfahrer und Matrosen in den ikonischen Zeichnungen von «Tom of Finland». Ich ertrank in meinem eigenen Spiegelbild. Ich versuchte, die Typen zu sein, die ich anziehen wollte. Ich kann mich im Fitness abrackern. Ich kann kopflose Oben-ohne-Selfies machen und das Internet damit zupflastern. Ich kann so tun, als ob ich männlich wäre, aber ich kann nicht etwas sein, was ich nicht bin. Ich kann nicht weiss sein, ich kann nicht das maskuline Ideal sein, das andere von mir erwarten. Ich kann mein Leben nicht nach den starren Anforderungen leben, die ich im Grunde genommen gar nie wollte.

Mein Aussehen, das von den Männern bestätigt wurde, die ich ablehnte, gab mir die Lizenz, noch selektiver zu sein.

Lester Brathwaite

Es ist alles nur ein Spiel, und ich habe versucht, nach den Regeln zu spielen. Am Anfang war das nicht so. Ich versuchte, mich selbst zu sein, oder eher: mich so wahrheitsgetreu darzustellen wie möglich. Selbst die Wahrheit bedarf einer optimalen Beleuchtung und der Weglassung einiger Fakten. Meine Profile – ich hatte sechs davon, die gleichzeitig online waren – zeigte mein Gesicht mit den obligatorischen Oben-ohne-Pics und eine kreative Beschreibung meiner selbst. Ich bekam etwas Aufmerksamkeit, aber nicht vom Kaliber, das ich dachte zu verdienen. Mein Aussehen, das von den Männern, die ich ablehnte, bestätigt wurde, gab mir die Lizenz, noch selektiver zu sein. Ich entfernte mein Facepic und fügte mehr oben-ohne Pics und Nacktfotos hinzu. Ich trainierte härter. Ich löschte die Angaben zu meiner Person, so dass nichts davon die Schuld trug, wenn mir ein Typ nicht antwortete.

Abfuhr führt zu Selbstzweifel Aber es war nie genug. Einige Typen können ihre Gefühle cool auf die Seite schieben. Sie können sich amüsieren, ohne dieses lächerliche Dating ernst zu nehmen. Aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich nehme alles persönlich. Mit angehaltenem Atem würde ich die Antwort eines Typen abwarten, und wenn sie nicht kam, würde ich mich fragen, was mit mir nicht stimmt. Hab ich etwas Falsches oder zu wenig gesagt? Bin ich nicht muskulös genug? Bin ich nicht männlich genug? Bin ich zu schwarz? Nicht schwarz genug? Typen, mit denen ich ein Gespräch begann, waren automatisch potenzielle Partner. Wir würden uns treffen, Sex haben und uns nie mehr wieder sehen oder ab und zu hin und her schreiben, bis einer von uns das Interesse verlor. Manchmal würden wir uns treffen, und ich würde meiner Abfuhr ins Gesicht schauen. Würden wir uns in einer anderen, sexuell weniger geladenen Situation treffen, wäre es vielleicht anders. Gibt man jedoch alles beim ersten Treffen preis, verliert das Ganze seine Überraschung und Spontaneität.

Diese Websites und Apps haben dazu geführt, dass ich unfähig wurde, mit Typen anders umzugehen, da sie meine Unsicherheiten stillten. Meine Unsicherheit, mit anderen Typen zu sprechen. Meine Unsicherheit, zu weiblich oder zu klammernd zu erscheinen. Meine Unsicherheit, auf jemanden attraktiv zu wirken, ohne dabei meinen Körper zu benutzen. Es ist eines, aufgrund einer Headline und eines Fotos abgewiesen zu werden, aber eine Abfuhr aufgrund von etwas Wesentlichem wie Charakter ist niederschmetternd. Ich habe mich selbst heruntergemacht und bin Kompromisse eingegangen, um meine alles verzehrende sexuelle Begierde zu befriedigen. Ich erkannte, dass diese Begierde ein Bedürfnis war, weniger einsam zu sein. Das erklärt, weshalb ich mich so leicht und so schnell an eine Person binden wollte.

Zum Beispiel telefonierte ich eine Stunde lang mit einem Typen, den ich auf einer Website kennen gelernt hatte. Danach schickte ich ihm einige SMS, auf die er nicht sofort antwortete. Das veranlasste mich dazu, ihm auf der Dating-Website eine lange Nachricht zu schicken, in der ich mich entschuldigte, falls ich ihn abgeschreckt hatte. Ich bin kein Telefontyp, und ein stundenlanges Gespräch ist für meine Verhältnisse ungewohnt, ausser mit mir nahestehenden Freunden, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Das Objekt meiner fehlgeleiteten Begierde hatte unterdessen keine Ahnung, wovon ich sprach. Er sei beschäftigt gewesen und habe auf meine SMS antworten wollen. Für mich löste das bloss eine Flut von Hinterfragungen aus.

Zweimal machte ich mit einem Typen ab, den ich auf der App «Jack’d» kennen gelernt hatte. Das zweite Mal übernachtete er bei mir, und wir hielten uns die ganze Nacht in den Armen. Der darauffolgende Morgen war perfekt. Er war in meinen Armen, die Sonne schien durchs Fenster auf unsere nackten, ineinander verflochtenen Körper. Ich brannte mir den Moment in mein Gedächtnis ein, da ich wusste, dass er niemals anhalten würde und ich in naher Zukunft kein ähnliches Erlebnis haben würde. Nach diesem perfekten Morgen hörte ich eine Weile nichts mehr von ihm.

Schlussendlich schickte ich ihm ein SMS mit der Annahme, dass er wohl das Interesse verloren habe. Er antwortete, dass er im Moment beschäftigt sei, also erwiderte ich – wohl mit der Absicht, ihn wegzustossen, bevor er mir weh tat –, dass ich «ein wenig spinne» und ihn «ein wenig mag». Ich hörte nie mehr von ihm.

Ich hatte schon beide Rollen gespielt. Die des Ignorierers und die des Ignorierten.

Lester Brathwaite

Die Entscheidung Dann, gestern, hatte ich genug. Ein Typ, der mit mir im gleichen Fitness trainiert, schicke mir auf «Scruff», einer weiteren App in meinem Arsenal, eine Nachricht. Wir hatten uns vorher im Gym gesehen und uns offensichtlich beäugelt, aber wie so oft war es einfacher, über Onlineprofile zu kommunizieren. Niemand mag eine Abfuhr kassieren, und eine zusätzliche Wand macht diese weniger schmerzhaft. Würde man meinen. Als ich ihn wieder im Fitness sah, ignorierte er mich komplett. Und so kam ich fast dazu, mein Fitness in Schutt und Asche zu legen. Ich war so wütend. Erzürnt. Aber wieso? Wieso liess ich mich schon wieder unterkriegen? Es war nicht das erste Mal, dass das passiert war. Ich hatte schon beide Rollen gespielt. Die des Ignorierers und die des Ignorierten. Aber das war der Gipfel.

Ich hatte endlich genug davon, mich all den Selbstzweifeln und Unsicherheiten auszusetzen, ausgelöst durch einen Typ mit ein paar Fotos und einer Handvoll Sätzen (wenn nicht nur Headlines und kopflose Oberkörper) und was er wohl über mich dachte oder nicht dachte – wenn er überhaupt an mich dachte. Ich wollte mehr Respekt für mich selber. Aufhören mit dem Versenden von Nacktfotos an Fremde in der Hoffnung, dass sie mich nicht aufgrund meiner Person, sondern meines Aussehens mögen, und was ich möglicherweise für ihre begierigen Arschlöcher tun kann. Ich will eine Beziehung fern von meinem Display haben. Also hörte ich auf.

Ich löschte all meine Sexprofile Die eine oder andere Sucht muss man von einem Tag auf den anderen aufgeben. Das heisst nicht, dass ich es nie mehr tun werde. Ich habe in der Vergangenheit schon Profile gelöscht, nur um wieder mit dem Versprechen angekrochen zu kommen, das alles anders sein würde. Aber ich falle jedes Mal in dieselben Muster zurück. Der Zyklus der Kompromisse und des Selbsthasses. Also höre ich auf, für jetzt und auf unbestimmte Zeit. Ich muss an mir selbst und an meinen Unsicherheiten arbeiten, anstatt mich vor ihnen zu verstecken oder sie in digitaler Form aufzublasen oder sie zu verbannen, indem ich mit den heissesten Männern Sex habe. Wenn sie mich mögen können, kann ich mich auch mögen. Ach Schwester, ich stehe nicht einmal auf SM, aber das gelegentliche Abschleppen ist das Masochistischste, was ich mir jemals hätte antun können.

Jetzt ist es an mir, reale Bekanntschaften in der realen Welt zu machen. Dadurch habe ich das Wichtigste realisiert: Dass all diese Apps und Websites nicht real sind. Ich habe immer versucht, diese kopflosen Torsos als echte Menschen anzusehen, aber das sind nur Versionen von Menschen, die sie selber sein wollen. Aus diesem Grund ist die Bekanntschaft online und in Person oftmals «lost in translation». Man kann keine Beziehung – ob ernst oder nicht ernst – mit einer Person führen, die nicht existiert.

Text: Lester Brathwaite

Dieser Text erschien erstmals auf Deutsch in der April-Ausgabe 2014 von Mannschaft Magazin und wurde 2024 überarbeitet. Die englische Originalfassung dieses Essays erschien unter dem Titel «Why I’ve Given Up on Hooking Up».

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