Die Ehe in der Schweiz öffnen – aber wie?
Das weitere Vorgehen spaltet die Community
Wie soll die Ehe in der Schweiz für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden? Mit einer einmaligen Revision oder in mehreren Etappen? LGBTIQ-Aktivist*innen sind sich darüber nicht einig. Hier ihre Argumente.
In der Schweiz sprach sich die nationalrätliche Rechtskommission im Juli erneut für die Initiative «Ehe für alle» aus und erwägt statt einer einmaligen Revision eine Umsetzung in mehreren Etappen. Damit zieht sie tiefe Gräben durch die LGBTIQ-Community. Anna Rosenwasser, Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation LOS, bevorzugt eine eimalige Revision. Der Zürcher Gemeinderat Alan David Sangines befürwortet hingegen das vorgeschlagene Vorgehen der Rechtskommission. Für die Mannschaft erläutern die beiden ihre Argumente.
Für eine «Ehe für alle» mit einer einmaligen Revision
von Anna Rosenwasser, Geschäftsführerin LOS
Wir fordern, dass für die «Ehe für alle» sämtliche diskriminierende Gesetze geändert werden –und zwar alle aufs Mal.
Fortpflanzungsmedizin heisst: ein sicherer Zugang zu Samenspenden. Das betrifft Paare, die zu zweit kein Kind zeugen können. Entsprechend ist dieser Zugang für viele Frauenpaare zentral. Wenn er nicht sicher ist, bedeutet das gesundheitliche, rechtliche und finanzielle Risiken für Eltern, Kinder und Spender. Und man bedenke: Bei der Heteroehe war diese Möglichkeit bei Unfruchtbarkeit schon immer inklusive. Heteros können im Fall einer Samenspende ihre Kinder einfach und sicher anerkennen lassen – wir Queers benötigen dazu noch immer aufwendige, langwierige Adoptionsverfahren.
Die meisten LGBTIQ-Kämpfer*innen wünschen sich, dass die «Ehe für alle» ausschliesslich auf der Gesetzesebene statt auf der Verfassungsebene behandelt werden kann, weil das vieles erleichtert. Nun sagen uns Befürworter*innen des mehrstufigen Verfahrens, dass eben genau darum mehrere Stufen nötig seien: Weil das erste Element der «Ehe für alle» auf Gesetzesebene umgesetzt werden kann, das zweite Element, die Fortpflanzungsmedizin, aber vielleicht eine Verfassungsänderung braucht. Allermindestens, sagt man uns nun, müsste man dies nochmals rechtlich abklären.
Wieso aber hat die nationalrätliche Rechtskommission diesen so wichtigen Aspekt nicht rechtlich abgeklärt, bevor der Vorschlag des mehrstufigen Verfahrens gemacht wurde? Der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin ist für viele queere Menschen, darunter ganz viele lesbische und bisexuelle Frauen, von grosser Bedeutung. Es wäre also nur fair gewesen, diese Frage sauber abzuklären, bevor man dieses Thema einfach auf später vertagt. Fun fact: Sowohl bei der Eheöffnung als auch bei der erleichterten Einbürgerung anno dazumal wurde zunächst auch die Auffassung vertreten, dass eine Verfassungsänderung nötig sei – ein europaweit bekanntes und beliebtes Argument von Gegner*innen, um fortschrittliche Regelungen zu verhindern. Eine zeitgemässe Auslegung – wie wir sie auch für die Fortpflanzungsmedizin brauchen! – hat dann in beiden Fällen dazu geführt, dass man diese Auffassung fallen liess und jetzt der Meinung ist, dass die Anliegen auf Gesetzesebene umgesetzt werden können.
Wenn der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin nicht jetzt im Rahmen der «Ehe für alle» kommt, wann kommt er dann? Wir haben zwei Optionen: Entweder gehen wir davon aus, dass dieses Thema vor dem Stimmvolk durchkommt – dann müssen wir uns nicht davor fürchten, ihn von Anfang an in der «Ehe für alle» zu integrieren. Oder aber man geht davon aus, dass das Stimmvolk einer Verfassungsänderung, also Ehe für wirklich alle, nicht zustimmen würde – das würde aber bedeuten, dass die Fortpflanzungsmedizin alleine erst recht keine Chance hat. Würde also der erste Schritt durchkommen und dieser wichtige zweite Schritt nicht, hat man die Anliegen unzähliger lesbischer, bisexueller und queerer Frauen geopfert für eine möglichst schnelle Ehe.
Wir wollen aber keine möglichst schnelle Ehe. Wir wollen eine gerechte Ehe. Sonst ist sie ja nicht für alle.
Veranstaltungshinweis Der Dachverband Regenbogenfamilien und die LOS organisieren ein Podium zum Thema samt Publikumsdiskussion und Apéro: Am Freitag, 31. August, um 19 Uhr im «Karl der Grosse» in Zürich. Mehr Informationen auf Facebook.
Für eine «Ehe für alle» in mehreren Etappen
von Alan David Sangines, Gemeinderat (SP) Stadt Zürich
Nachdem der Bundesrat und die nationalrätliche Kommission ein Rechtsgutachten erstellen liessen, scheint endlich allen klar zu sein, was einige LGBTIQ-Aktivist*innen schon lange sagten und ich zusammen mit den Nationalrät*innen Chantal Galladé und Daniel Jositsch bereits im September 2015 in der Mannschaft schrieb: Die Ehe kann auf Gesetzesstufe für alle geöffnet werden inklusive Adoptionsrechten, womit keine langwierige Verfassungsänderung notwendig wird. Gemäss den Gutachten ist für den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin für gleichgeschlechtliche Paare aber eine Verfassungsänderung nötig. Auch die Hinterlassenenrente benötige länger, weil dafür eine AHV-Revision notwendig sei (eine Revision, die das Parlament seit Jahren nicht hinkriegt). Deshalb will eine Mehrheit der Kommission sehr rasch die Ehe für alle inklusive Adoptions- und Einbürgerungsrechte auf Gesetzesstufe umsetzen und die Fortpflanzungsmedizin und die Hinterlassenenrente in einer zweiten Etappe angehen. Dies, um schnellstmöglich die «Ehe für alle» zu ermöglichen.
Das hat nun LGBTIQ-Verbände auf den Plan gerufen, die eine abgeschwächte «Ehe für alle» kritisieren. Einige Personen gehen sogar so weit, dass sie sagen, das Vorgehen sei lesbenfeindlich und dass es «eine solche Ehe nicht geben kann». Auch ich möchte hundertprozentige Gleichstellung. Aber diesen Etappensieg, nämlich bald eine Ehe für alle inkl. Adoptions- und Einbürgerungsrechten zu haben (also noch weitergehend, als die Initiative Bertschy forderte), sollten wir nicht gefährden. Zum Vergleich: 2012 wurde die Volladoption im Nationalrat abgeschwächt und auf die Stiefkindadoption reduziert. Damals kritisierte ich diese Salamitaktik («Wir wollen die ganze Salami», Mannschaft Juni 2012). Aber es waren gerade jene Verbände, die heute am lautesten Kritik üben, die mich damals baten, an die Kinder zu denken, die bereits in (vorwiegend lesbischen) Familien leben. Es sei wichtig, die Rechte dieser Familien abzusichern und in einem nächsten Schritt die Volladoption zu fordern. Das leuchtete mir ein. Aber genauso sollte es jetzt einleuchten, dass die «Ehe für alle», inklusive Volladoption und Einbürgerungsrechten, zum Greifen nahe ist und rasch und ohne langwierige Verfassungsänderungen umgesetzt werden kann.
Sollte der Zugang zu Fortpflanzungsmedizin (und die Hinterlassenenrente) ohne langwierige Verzögerungen und Verfassungsänderung umsetzbar sein, bin auch ich dafür, sie sofort umzusetzen. Aber sollte es nicht möglich sein, sollten wir die «Ehe für alle» rasch Realität werden lassen, statt sie mit destruktiven Haltungen wie «lieber keine Ehe als eine solche Ehe» lahmzulegen. Denn wer es bevorzugt, die «Ehe für alle» jetzt zu verhindern, sorgt dafür, dass viele Paare noch auf Jahre hinaus weder heiraten, adoptieren, noch ihre Partner*innen erleichtert einbürgern lassen können, und nimmt somit in Kauf, dass diese Diskriminierung länger erhalten bleibt. Die politischen Prozesse in der Schweiz sind mühsam und langwierig. Aber gerade deswegen sollten wir all unsere Kräfte bündeln, um die «Ehe für alle» rasch umzusetzen, und danach bei einer Verfassungsänderung zum Zugang zur Fortpflanzungsmedizin ebenfalls vereint noch diesen Schritt erkämpfen. Jetzt müssen wir an die tausenden Paare denken, denen das Ehe- und Adoptionsrecht verweigert wird – genauso, wie wir bei der Stiefkindadoption an bestehende Familien denken mussten. Das langfristige Ziel ist und bleibt jedoch auch dann weiterhin die hundertprozentige Gleichstellung ohne Wenn und Aber.
Die Initiative «Ehe für alle» – eine Timeline
2013 GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy reicht die parlamentarische Initiative «Ehe für alle» ein, die eine Verfassungsänderung zur Öffnung der Ehe und der eingetragenen Partnerschaft für alle Paare fordert. Die Ehe über die Verfassung öffnen zu wollen, führt in der LGBTIQ-Community teilweise zu Kritik. Vertreter*innen bemängeln zudem, dass die Initiative die Adoptionsfrage ausklammert. 2015 Im Februar gibt die Rechtskommission des Nationalrats mit 12 zu 9 Stimmen bei einer Enthaltung der «Ehe für alle» Folge. Im September folgt die Schwesterkommission des Ständerats mit 7 zu 5 Stimmen bei einer Enthaltung. Damit hat die Rechtskommission des Nationalrats zwei Jahre Zeit, um einen Erlass zu erarbeiten.
2017 Die Rechtskommission des Nationalrats will prüfen, ob die Initiative «Ehe für alle» auch auf Gesetzesstufe ohne Verfassungsänderung umgesetzt werden kann. Sie beauftragt das Bundesamt für Justiz mit einem Rechtsgutachten und beantragt eine Fristverlängerung von zwei Jahren.
2018 Das Rechtsgutachten bestätigt eine mögliche Eheöffnung auf Gesetzesstufe, inklusive Volladoption und Einbürgerungsrechte. Der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin wird allerdings von der Bundesverfassung geregelt, die Unfruchtbarkeit oder eine Erbkrankheit voraussetzt. Die Rechtskommission fällt den Grundsatzentscheid, die «Ehe für alle» statt in einer einmaligen Revision in mehreren Etappen umzusetzen.
2019 Bis Februar 2019 muss die Verwaltung zuhanden der Rechtskommission des Nationalrats eine «Kernvorlage» zur Umsetzung der «Ehe für alle» auf Gesetzesstufe vorlegen. Da der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin der Verwaltung zufolge eine Verfassungsänderung benötigt, soll diese ausgeklammert werden. Ebenso die Hinterlassenenrente, die im Zuge der AHV-Revision erfolgen müsse.
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