David Miranda – Der schwule Hoffnungsträger aus der Favela

Ein filmreifer Aufstieg in die politische Elite Brasiliens

Das Time Magazine bezeichnete David Miranda als Gesicht der nächsten Generation. (Bild: facebook.com/davidmichael.miranda)
Das Time Magazine bezeichnete David Miranda als Gesicht der nächsten Generation. (Bild: facebook.com/davidmichael.miranda)

David Miranda kämpft für die Queers, für die Schwarzen und für die Armen. In Brasilien gegen die politische Elite anzutreten ist jedoch aufreibend, unter dem rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro sogar lebensgefährlich. Das kriegte der 35-Jährige bereits am eigenen Leibe zu spüren. Nach einem filmreifen Aufstieg aus dem Armenviertel setzt sich der Politiker nun für ein progressives und gerechteres Land ein.

Text: Ruth Eisenreich

Als David Miranda am späten Nachmittag der Pride Parade von São Paulo, der angeblich grössten Pride der Welt, oben auf einem Wagen steht, da wirkt er endlich wieder entspannt. Seine Rede hat er hinter sich gebracht, die Regenbogenfahne auf seiner Wange ist verwischt, der Bart voll Glitzer vom vielen Gedrücktwerden. Miranda tanzt, lacht, hüpft, er winkt den Menschen da unten, die ihm zukreischen, wirft ihnen Kusshände zurück. Er zittert nicht mehr wie am Vorabend im Auto. Drei der vier Leibwächter, die den ganzen Tag an ihm klebten und nervös die Menge scannten, sind gar nicht erst mit auf den Wagen gestiegen, und selbst der Oberleibwächter gibt ihm jetzt ein bisschen Freiraum. Es scheint, als sei es ihm endlich gelungen, für einen Moment die Morddrohungen zu vergessen, die homophoben Beschimpfungen und die Tatsache, dass der Staatspräsident höchstpersönlich Verschwörungstheorien über ihn verbreitet.

Es ist Juni 2019. Der Präsident von Brasilien heisst Jair Bolsonaro und ist zu diesem Zeitpunkt seit einem halben Jahr im Amt (MANNSCHAFT berichtete). Er ist ein Mann, der die Militärdiktatur verherrlicht und vor der Wahl «diesen roten Kriminellen» drohte, sie würden «entweder ins Ausland gehen oder in den Knast». Der gesagt hat, die Quilombolas – die Nachfahren geflüchteter und freigelassener Sklav*innen – «taugen nicht mal mehr zur Fortpflanzung». Der Homosexualität mit Pädophilie in Verbindung bringt und Eltern riet, ihren Söhnen das Schwulsein mit einer Tracht Prügel auszutreiben. «Mir wäre es lieber, dass einer meiner Söhne bei einem Unfall stirbt, als dass er hier mit einem Schnurrbärtigen auftaucht», hat er einmal gesagt (MANNSCHAFT berichtete).

Nach seinem Amtsantritt lockerte Bolsonaro die Waffengesetze, kürzte das Bildungsbudget – ausser für Militärschulen – und löste die staatliche Arbeitsgruppe zur Bekämpfung von Folter auf. Als die Corona-Pandemie Brasilien erreichte, nannte er Covid-19 ein «Grippchen» und antwortete auf eine Frage nach der hohen Zahl an Todesopfern: «Na und? Es tut mir leid, aber was soll ich tun?» Bis Mitte August 2020 verzeichnete das 212-Millionen-Einwohner-Land 3,5 Millionen Corona-Infektionen und 110 000 Todesfälle. Jede vierte LGBTIQ-Person hat aufgrund der Pandemie ihr Einkommen verloren (MANNSCHAFT berichtete).

David Miranda bei der São Paulo Pride 2019.(Foto: Ruth Eisenreich)
David Miranda bei der São Paulo Pride 2019.(Foto: Ruth Eisenreich)

Gegen den Strom schwimmen Es gibt das ultrakonservative Brasilien, das Bolsonaro noch immer bejubelt. Aber es gibt auch ein anderes, ein linkes, ein progressives Brasilien. Manche Progressive haben nach Bolsonaros Wahlsieg resigniert – andere aber wurden erst recht aufgerüttelt, sie sind laut und politisiert und entschlossen, gegen den Rechtsruck anzukämpfen.

Mit an vorderster Front dieses Kampfes steht David Miranda. Der 35-Jährige ist einer von zwei offen Homo- bzw. Bisexuellen unter 513 Abgeordneten in einem Land, in dem es im vergangenen Jahr fast einen homo- oder transphoben Mord pro Tag gab. Ein schwarzer Abgeordneter in einem Land, in dem Nicht-Weisse 56 Prozent der Bevölkerung, aber nur ein Viertel der Parlamentarier*innen stellen. Und ein aus einem Armenviertel kommender Abgeordneter in einem Land, in dem Politiker*innen üblicherweise aus Politikerclans stammen.

Der Nationalkongress in Brasília, einer ab den Fünfzigerjahren mitten ins brasilianische Hochland geklotzten Planstadt, sieht von aussen futuristisch aus und von innen oft nur nach jenen Fünfzigerjahren. In den Gängen von Nebengebäude III reihen sich schmucklose kleine Abgeordnetenbüros aneinander, Linoleumböden, Glasfronten mit Lamellenvorhängen.

Die ersten Wochen hier seien hart gewesen, sagt Miranda mit heiserer Stimme in seinem kahlen Büro im ersten Stock. Inzwischen aber fühle er sich wohl, er arbeite gut mit den Kolleg*innen der anderen Parteien zusammen. Er ist stolz darauf, dass er mit fast jedem reden könne, auch mit den Söhnen von Präsident Bolsonaro, auch mit ultrakonservativen evangelikalen Abgeordneten, mit Menschen also, die alles verachten, wofür Miranda steht.

Routiniert bewegt sich Miranda durch das Gewusel im Parlament, schüttelt Hände, klopft Schultern, verteilt Küsschen, gibt hier eine Unterschrift für eine Gesetzes­änderung und verweigert dort eine andere, beantwortet im Gehen eine Meinungsumfrage und gibt dem Fragenden gleich noch Ratschläge, wie er die Umfrage verändern solle. Miranda ist ein grosser, athletischer Mann, der weiss, dass er gut aussieht – im Karneval, schon als Abgeordneter, postet er ein Video auf Instagram, in dem er mit nacktem Oberkörper und kreisenden Hüften unter der Gartendusche tanzt. David Miranda hat ein Selbstbewusstsein, das manchmal an Arroganz grenzt, aber das verwundert nicht, wenn man seine Lebensgeschichte kennt.

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Dass er jetzt hier ist, sich an das Rednerpult im Plenarsaal stellen und die Regierung korrupt nennen kann; dass er Gesetzesinitiativen einbringen kann, für ein Programm «Schule ohne Diskriminierung», für die Suizidprävention in der LGBTIQ-Bevölkerung, für den Schutz von Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität Gewalt erfahren; dass Time Magazine ihn neben Greta Thunberg zu einem der «10 Next Generation Leaders of 2019» ernannt hat – das alles ist das vorläufige Ende einer märchenhaft anmutenden Aufstiegsgeschichte.

Es war ein langer Weg hierher.

Das Waisenkind aus der Favela Miranda wird im Jacarezinho geboren, einer Favela im Norden Rio de Janeiros, 18 Kilometer entfernt von Touristenhotspots wie der Copacabana, dem Zuckerhut oder der Christusstatue. Seinen Vater lernt er nie kennen, seine Mutter stirbt, als er fünf Jahre alt ist, er wächst mit mehreren Halb- und Stiefgeschwistern bei seiner Tante Eliane auf, die er heute seine Mutter nennt. Sie arbeitet als Putzfrau.

Er habe Glück gehabt, sagt er, dass seine Tante ihm eine gute Familienstruktur geboten habe, dass sich immer jemand um ihn kümmerte, es immer etwas zu essen gab, dass er in die Schule gehen konnte. Oft habe er vor den Schiessereien der Drogenbanden davonlaufen müssen oder vor den Racheaktionen der Polizei; als er das erste Mal einen Toten auf der Strasse liegen sah, sagt er, sei er acht Jahre alt gewesen. Manche seiner Brüder habe er seit der Kindheit nicht mehr gesehen, von einem wisse er nur, dass er auf der Strasse gelandet sei. Zugleich, betont Miranda, konnte er als kleiner Junge im Jacarezinho auf der Strasse herumlaufen und Fussball spielen, kennt alle Nachbar*innen in den umliegenden Gassen.

Mit neun Jahren, erzählt Miranda, beginnt er für einen Zahnarzt Flyer zu verteilen, arbeitet dann als Verkäufer in einer Videothek, wird gefeuert, nachdem er ein Videospiel geklaut hat. Mit 13 haut er nach einem Streit mit seiner Tante von zu Hause ab, schlägt sich zu Fuss zu einer befreundeten Familie durch, schläft unterwegs ein oder zwei Nächte auf der Strasse, wühlt im Müll von McDonald’s nach Essen und bettelt Passant*innen um Geld an, um Batterien für seinen Gameboy zu kaufen.

Er erzählt das nicht als schlimme Episode, sondern als ein Abenteuer. Was würde der zwölfjährige David sagen, wenn er den erwachsenen David heute hier im Parlament sähe? «Nossa, ich glaube, er wäre sehr stolz auf mich.» Und überrascht? «Nein», sagt David Miranda, er lacht und fügt an: «Ich weiss es nicht, wahrscheinlich schon. Es war ein langer Weg hierher.»

Eine schicksalhafte Begegnung am Strand Der Weg beginnt im Februar 2005, mit einer Episode, die mehr nach schlechter Hollywood-Romanze klingt als nach dem echten Leben. Miranda, damals 19, spielt mit ein paar Freunden Ball am Strand von Ipanema und wirft den Caipirinha eines US-amerikanischen Touristen um. Er entschuldigt sich, die beiden kommen ins Gespräch. Heute sind sie verheiratet und leben mit ihren adoptierten Söhnen – zwei Brüdern aus einem Waisenhaus im armen Nordosten des Landes – und 25 geretteten Strassenhunden in einem Haus mit Garten in Rio.

Der Mann mit dem Caipirinha heisst Glenn Greenwald, ist 18 Jahre älter als Miranda und Anwalt in New York. Er zieht damals nach Rio, beginnt zu bloggen, macht sich bald einen Namen als Journalist. Miranda organisiert seine Termine, kümmert sich um Verträge und Rechnungen und beginnt mit 26 ein Marketingstudium an einer Privatuniversität, um Greenwalds Karriere professioneller managen zu können.

Dann, im Jahr 2013, spielt der Whistleblower Edward Snowden Greenwald Dokumente zu, die zeigen, wie der US-Geheimdienst NSA in bisher ungekanntem Ausmass die weltweite digitale Kommunikation überwacht. Mit seinen Veröffentlichungen wird Greenwald weltberühmt. Auch David Miranda landet international in den Schlagzeilen: Als er mit einer verschlüsselten Festplatte im Gepäck von Berlin über London nach Rio de Janeiro reisen will, wird er am Flughafen Heathrow neun Stunden lang von der britischen Polizei festgehalten und verhört.

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David Miranda mit seinem Partner, dem US-amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald.

 

Politisches Blut geleckt . . . Dass die Welt ihn damals als einen naiven jungen Kerl wahrnimmt, der vom berühmten Journalisten als Kurier eingespannt wurde, hat ihn offenbar nachhaltig gekränkt. Wenn er heute von dieser Zeit spricht, verwendet er konsequent die Wir-Form: «Als wir die Snowden-Dokumente veröffentlicht haben . . . »

Ich sah, wie die brasilianische Gesellschaft kollabiert. Ich sah die steigende Gewalt und die Menschen ohne Arbeit oder Gesundheitsversorgung.»

Miranda startet eine Kampagne, er will, dass Brasilien Snowden Asyl gewährt. Und er beginnt sich für die brasilianische Politik zu interessieren. Damals wachsen in Brasilien Demonstrationen gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Ticketpreise zu Massenprotesten an. «2013 war ein Bruch», sagt David Miranda. «Ich sah, wie die brasilianische Gesellschaft kollabiert, ich sah die steigende Gewalt und die Menschen, die keine Arbeit und keine Gesundheitsversorgung hatten. Ich hatte das Gefühl, ich muss etwas tun.»

Ungefähr bis dahin, sagt er, habe er an die Erzählung geglaubt, dass jeder es nach oben schaffen könne – ihm selbst war das schliesslich auch gelungen. «Aber ich bin eine Anomalie, etwas ausserhalb der Kurve.» Brasilien ist eines der Länder mit der grössten sozialen Ungleichheit weltweit, bei der Einkommensverteilung schneidet es noch schlechter ab als die USA. Im Kapitalismus würden die, die oben sind, immer weiter gewinnen, sagt Miranda, die unten hätten kaum eine Chance, «und man benutzt Leute wie mich, um zu sagen: Schau doch, David hat es geschafft, also kannst du das auch.»

Er beginnt damals, sich politisch zu engagieren, gründet gemeinsam mit der Jugendorganisation Juntos («Zusammen») ein Jugendzentrum in Rio, tritt der kleinen linken Partei PSOL («Partei Sozialismus und Freiheit») bei. 2016 wird Miranda in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt. Dort setzt er unter anderem durch, dass trans Menschen in der Kommunikation mit offiziellen Stellen ihren gewählten Namen verwenden dürfen, und schreibt an einem Gesetz mit, wonach die Stadt die Gehälter und Pensionen ihrer Angestellten bezahlen muss, bevor der Bürgermeister seinen Lohn erhält.

Mit der Macht-Elite ist nicht zu spassen In dieser Zeit beginnt Miranda, bis dahin vor allem LGBTIQ-Aktivist, sich auch stärker mit seiner Herkunft und Hautfarbe zu identifizieren, er lässt seine Haare nun natürlich wachsen, statt sie wie bisher zu glätten und zu gelen. Und er freundet sich mit einer Parteikollegin an, ebenfalls Schwarz, ebenfalls aus der Favela. Die zwei sind die ersten offen LGBTIQ-Stadträt*innen Rios. Tagsüber, so erzählt Miranda, sitzen sie im Plenarsaal nebeneinander, am Wochenende machen sie zusammen Party, sie stellen einander ihre Ehepartner*innen vor.

Dann, am 14. März 2018, fährt Marielle Franco abends von einer Veranstaltung nach Hause, als ein fremdes Auto sich ihrem nähert und 13 Schüsse fallen. Franco und ihr Fahrer sind sofort tot. Beim Begräbnis am nächsten Tag trägt David Miranda den Sarg von Marielle. Ihr Gesicht prangt heute in Brasilien auf T-Shirts und Hausmauern, dazu Slogans: «Marielle lebt», «Wer hat befohlen, Marielle zu töten?», «Kämpfe wie Marielle». Sie ist zum Symbol geworden, für den linken Widerstand, für den Kampfgeist der Minderheiten und der Nichtprivilegierten – aber auch für die Gefahr, in die sich begibt, wer sich für Menschenrechte einsetzt und gegen die Gewalt, die Drogenbanden, Milizen und Militärpolizei in die Favelas tragen.

Bei der Wahl 2018 verpasst David Miranda ein Parlamentsmandat. Dann, Ende Januar 2019, die Nachricht: Sein Parteikollege Jean Wyllys, der erste und bis dahin einzige offen homosexuelle Abgeordnete des brasilianischen Parlaments, wird von einem Auslandsaufenthalt nicht zurückkehren und sein neues Mandat nicht antreten. Grund: Die Morddrohungen gegen ihn seien zu massiv geworden (MANNSCHAFT berichtete). Zuletzt habe Wyllys sich kaum mehr getraut, seine Wohnung zu verlassen, erzählt eine Mitarbeiterin. Die Sicherheitsmassnahmen, die ihm das Parlament gewährt habe, seien halbherzig und ineffizient gewesen. Auch innerhalb des Parlaments sei Wyllys angefeindet worden: Jair Bolsonaro, damals noch Abgeordneter, habe sich im Plenarsaal gern hinter Wyllys gesetzt und ihm homophobe Beleidigungen zugeflüstert.

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David Miranda rückt auf Wyllys’ Mandat nach. Kaum hat er sein Amt angetreten, kommt die erste Drohmail: «Komm mir nicht in die Quere», schreibt ein anonymer Absender, «Jean ist wegen mir geflohen.» In einem Forum im Deep Web, in dem auch die mutmasslichen Mörder von Marielle Franco aktiv gewesen seien, sagt Miranda, seien ernstzunehmende Drohungen gegen ihn und seine Familie gefunden worden. Wie geht man mit so etwas um, kaum ein Jahr nach dem Mord an einer Freundin und Kollegin? «Ich habe Sicherheitsvorkehrungen getroffen», sagt Miranda in seinem Büro in Brasília, «aber ich lasse mich nicht lähmen. In der Favela ist der Tod etwas Alltägliches, und ich bekomme jeden Tag Nachrichten über Morde an LGBTIQs, über Morde an der Schwarzen Jugend – ich kann damit umgehen.»

Angstattacken und Albträume Knapp einen Monat nach diesem Gespräch, in dem er sich so abgeklärt gibt, sitzt David Miranda in São Paulo in einem Auto, das ihn von einer Parteiveranstaltung zu einem Fernsehinterview bringt, und zittert so stark, dass er fast seinen Saft verschüttet. «Heute hatte ich eine stärkere Angstattacke», sagt er. Er zeigt seine Hand: «Siehst du das? Mein Geist ist stark, aber mein Körper ist aufgewühlt. Ich kann nicht schlafen, ich habe Albträume.»

Er ist wieder in die Schusslinie geraten, seit sein Mann begonnen hat, geleakte Telegram-Chats des beliebtesten Ministers des Landes zu veröffentlichen. Sérgio Moro wurde berühmt als Richter der Operation Lava Jato («Waschanlage»), die Dutzende Unternehmer*innen und Politiker*innen wegen Korruption und Geldwäsche ins Gefängnis brachte. Er schickte auch den linken Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ins Gefängnis und schloss ihn damit von der Präsidentschaftswahl 2018 aus, die Lula sonst wohl gewonnen hätte. So war der Weg frei für Bolsonaro, der Moro postwendend zum Justizminister machte.

Doch im Juni 2019 – knapp ein Jahr, bevor Bolsonaro und Moro sich zerstreiten und Moro zurücktritt – beginnt Glenn Greenwalds Plattform The Intercept Brasil geleakte Chats zwischen Moro und den Staatsanwält*innen der Lava-Jato-Taskforce zu veröffentlichen, die Moro alles andere als unparteiisch wirken lassen und die Vermutung der Lula-Anhänger*innen erhärten, dass dessen Verurteilung politische Gründe hatte. Das Regierungslager reagiert, indem es vom Inhalt der Gespräche ablenkt und sich auf die Journalist*innen stürzt.

So wie du bin ich schwul, schwarz, aus der Favela.

Die Gegner kontern mit Homophobie Bald nach der ersten Veröffentlichung über Sérgio Moro bekommen Greenwald und Miranda eine Mail voller homophober Beschimpfungen und wüster Drohungen gegen ihre Kinder und Mirandas Mutter. Politiker*innen, darunter die Bolsonaro-Söhne, verbreiten Verschwörungstheorien, wonach Miranda sein Mandat von Jean Wyllys gekauft habe und von seinem Kabinett aus einen internationalen Spionagering betreibe. Sie setzen in sozialen Netzwerken die Wörter «Ehemann» und «verheiratet» in Anführungszeichen, twittern Verunglimpfungen von Greenwalds Namen, ihre Anhänger*innen nennen Miranda Greenwalds «Ehefrau», beschimpfen die beiden homophob.

Die Pride von São Paulo – hier 2019 – gilt als grösste weltweit. (Bild: Ruth Eisenreich)
Die Pride von São Paulo – hier 2019 – gilt als grösste weltweit. (Bild: Ruth Eisenreich)

Und der Präsident? Verbreitet vor laufenden TV-Kameras die Verschwörungstheorie weiter, nennt dabei nicht die Namen von Greenwald, Miranda und Wyllys, sondern spricht lieber gestenreich von «jenem Pärchen da» und «diesem Mädchen ausserhalb des Landes». Die Finanzbehörden stürzen sich auf die Vermögensverhältnisse des Ehepaares. Regierungsanhänger fordern die Abschiebung Greenwalds, der bis heute US-Staatsbürger ist. Abschieben könne man ihn nicht, bedauert Präsident Bolsonaro, «weil der Gauner, um so ein Problem zu vermeiden, in Brasilien einen anderen Gauner geheiratet und Kinder adoptiert hat» – aber «vielleicht geht er hier in den Knast».

David Miranda wusste, worauf er sich einlässt, als er das Parlamentsmandat annahm. Warum er sich das antut, fragt ihn am Morgen vor der Pride Parade in seiner Hotellobby ein niederländischer Journalist. «Es gibt so viele Menschen, die jemanden brauchen, der für sie sprechen kann: LGBTIQ, Schwarze, Menschen, die aus derselben Armut kommen wie ich», sagt Miranda. «Wenn ich die Stimme dieser Menschen sein kann, dann werde ich das sein.»

Es sind Menschen wie Mateus, 22, graues T-Shirt, Jeansjacke, einer der Dutzenden, die Miranda in der bunten Menge auf der Pride umarmen und um ein Selfie bitten. «Alles, was er sagt und tut, repräsentiert mich», sagt Mateus, «ohne ihn würde ich im Parlament nicht existieren.»

Menschen wie der schüchterne 19-Jährige in Jogginghose, Tattoos am Unterarm, grosse Silberketten um den Hals, der sich bei einer Parteiveranstaltung am Abend vor der Pride zu Wort meldet. «So wie du bin ich schwul, schwarz, aus der Favela», sagt er zu Miranda. «Die Arbeit, die du machst, inspiriert mich so sehr.»

Unter dem Jubel des Publikums steht Miranda auf und umarmt ihn. Hinter ihnen hängt ein grosses Transparent, darauf die Namen von Miranda und Greenwald und in Neonorange ein Slogan: «Die LGBT+ werden Bolsonaro besiegen».

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