Christina Aguileras neues Werk ist ein kraftvolles, vielfältiges Album für alle Lebenslagen
«Liberation» heisst das neue Album von Christina Aguilera, das soeben erschienen ist. Unser Aguilera-Experte Alan war Anfang Juni an der Listening-Session in Berlin und liefert einen ersten Eindruck.
Knapp sieben Jahre ist es her, seit Christina Aguilera ihr letztes Album veröffentlichte. Dazwischen veröffentlichte sie zwar den einen oder anderen Song, wie beispielsweise die Ballade «Say Something» (mit «A Great Big World»), den Opfern des Pulse Massakers in Florida gewidmeten Song «Change» oder den Discohit «Telepathy». Ansonsten war es ruhig um die fünffache Grammy-Gewinnerin, die sich mit ihrer Powerstimme in den Musikolymp katapultierte und es 2010 als einzige unter 30jährige in die Liste des Rolling-Stone-Magazins der «100 Greatest Singers of All Time» schaffte.
Vom Popgirlie zum Heldinnenstatus Dennoch geniesst Christina Aguilera gerade unter den LGBTIQs und Frauenrechtlerinnen ihrer Fans einen Heldinnenstatus, seitdem sie 2002 mit der Veröffentlichung ihres Albums Stripped ermutigende Songs veröffentlichte, die sich insbesondere an Minderheiten richtete. So appellierte sie bereits 2002 in ihrem Song «Can’t hold us down» and «All the Girls Around the World» sich nicht von Männern unterdrücken zu lassen, sang in «I’m OK» gegen häusliche Gewalt und zeigte in ihrem Musikvideo zu «Beautiful» eine Transperson und zwei küssende Männer – zu einer Zeit als 58% der Amerikaner*innen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ablehnten.
Zwischen 2002 und 2018 veröffentlichte sie weitere Alben, drehte einen Film und war einer der vier ersten Jurymitglieder der Castingshow «The Voice» bei deren Erstausstrahlung 2011. Daneben spendete sie für Frauenhäuser, setzte sich in Kampagnen gegen Gewalt an Frauen ein und wurde 2010 zur Botschafterin des World Food Programs der UNO ernannt.
Die Sache mit den Castingshows Knapp sieben Jahre dauerte es, bis die Mutter zweier Kinder nun endlich ihr neues Album «Liberation» veröffentlichte. Dass dies so lange gedauert hat, begründete Aguilera in Interviews hauptsächlich mit der Erziehung ihres heute zehnjährigen Sohnes und ihrer vierjährigen Tochter, was als gutverdienendes Jurymitglied einer Castingshow wesentlich einfacher sei, wie als durch die Welt tourende Sängerin. Doch sie spürte zunehmend, wie «the Voice» nicht das sei, was sie sich vorgestellt hatte. Ihr seien zu viele Regeln auferlegt worden, wie sie gegenüber Billboard sagte: «Besonders als Frau wird einem gesagt: Du kannst dies nicht anziehen, du darfst das nicht sagen.» Es sei nicht mehr um Musik gegangen, sondern um gute TV-Momente. Gegenüber dem W Magazin doppelte sie nach und beschrieb, wie sich das Konzept verändert habe. Bei der ersten Staffel sei es mit den Blind Auditions tatsächlich noch lediglich um die Musik und die Stimme der Kandidierenden gegangen. Das habe sich mit der Zeit verändert. «Ich hab mich nicht mehr wohl gefühlt. Ich war nur noch Teil einer Geldmaschinerie.» Sie habe lange dafür gekämpft, dass die Jury aus zwei, statt nur einer Frau bestehen durfte, doch dies sei von den Produzenten bis zur Staffel 11 abgelehnt worden. So habe sie sich entschieden, die Show zu verlassen und sich wieder auf die Musik zu konzentrieren. Ob dies einen Einfluss auf ihr neues Album hatte?
Umso gespannter war die Mannschaft auf das neue Album der 37-jährigen Sängerin, als wir ihre Listening-Session in Berlin besuchten .
Where’s Maria – der Trailer Als Einstimmung auf das Album wurde im Red Room des Soho Houses in Berlin den Journalist*innen der Trailer des Albums abgespielt. Dieser Trailer gibt bereits einen Eindruck davon, was man vom Album erwarten kann. «Ich weiss nicht, warum wir uns selbst verletzen, nur um der gewünschten Wahrnehmung anderer zu gefallen.» hält Aguilera gleich zu Beginn fest. Im Trailer spricht die Sängerin einerseits von den Höhen und Tiefen ihres Lebens, entschuldigt sich bei sich selbst dafür, ihre Inperfektionen versteckt zu haben und erzählt von der schwierigen Ehe ihrer Mutter. Die (gewalttätige) Ehe ihrer Mutter habe ihr früh gezeigt, dass sie gegenüber einem Mann nie schwach sein werde. Gleichzeitig gibt sie eine Antwort auf alle, sie als Diva verschrien, indem sie lachend sagt «i’m not anti-social, i’m anti-bullshit». Auch ihre sexuelle Seite kommt zum Vorschein. «Eine Frau zu sein heisst für mich, das zu tun, was sich richtig für dich in deinem Körper anfühlt. Es war sehr befreiend für mich, furchtlos und stark zu sein in meiner Sexualität und dies auch kreativ ausdrücken zu können.» Und lachend fügt sie hinzu: «ich glaube, in meinem letzten Leben muss ich ein Pornostar gewesen sein!» Und da ist auch wieder diese Aguilera aus der Stripped Zeit, die sich immer wieder dafür ausgesprochen hat, dass auch Frauen selbstbestimmte sexuelle Wesen sein dürfen und die Doppelmoral anprangerte, wonach Frauen zwar dauernd sexy zu sein hätten, aber als Schlampen verschrien würden, sobald sie Sex mit zu vielen Männern hätten.
Der Trailer endet kämpferisch: «Scheiss drauf, das ist einfach, wer ich bin und wer auch immer nicht an Bord ist, can suck my dick», sagt sie lachend. Umso gespannter wartete die Mannschaft, ob diese Ankündigungen auch eintreffen. Und sie tun es.
Mit Liberation hat Christina Aguilera ein vielseitiges Musikalbum geschaffen, in dem sowohl verschiedenste Musikrichtungen wie auch die Höhen und Tiefen des Lebens besungen werden. Weil das gleichnamige Intro des Albums «Liberation» der Presse noch nicht vorgeführt wurde, beginnt die Listening-Session mit dem zweiten Track.
Searching for Maria Der kurze Track ist ein Intro auf den folgenden Song «Maria», welcher gemäss Aguilera ihr Lieblingssong vom Album darstellt. «Where are you – are you out there» hört man Christina fragen. Man hört Babygelächter, spannende Musik und zu Schluss ein geheimnisvolles «Remember». Das Intro nimmt gemäss Aguilera Bezug auf einen ihrer Lieblingsfilme «the Sound of Music», in welchem die Hauptdarstellerin Maria sich selbst und ihre Freiheit sucht.
Maria Ein Highlight gleich zu Beginn des Albums. Der von Kanye West produzierte Song mit Einflüssen von eines «Jackson 5»-Songs und «The Sound of Music» ist ein eindrückliches Musikfeuerwerk, in dem Aguilera von der Selbstfindung singt. In Anlehnung an die Hauptdarstellerin des Films «The Sound of Music» singt Christina, deren zweiten Vorname ebenfalls Maria ist, davon, sich selbst zu finden. «How was I supposed to know, that it would cost my soul» singt sie. «Where is Maria, why don’t I see her?» fragt sie unter Begleitung von Violinen und beschwört ihre Selbstfindung: «Can’t you hear me calling, my whole world is falling. Don’t run away, no, no.» Zweifellos ein Track der unter die Haut geht und mit dem sich gerade wohl auch LGBTs identifizieren können, die den schwierigen Prozess der Selbstfindung nur zu gut kennen.
Sick of Sittin’ Gefunden hat sie sich. Und wie! Mit rockigen, Janis Joplin inspirierten Klängen untermalt, donnert Aguilera davon, «sick of sitting» zu sein. Sie singt davon, zwar gutes Geld zu verdienen, aber fremdbestimmt zu werden und frei sein zu wollen. Ein Seitenhieb gegen ihre Erlebnisse bei «the Voice»? Auf jeden Fall eine kraftvolle Hymne, die gegen das Gefühl ansingt am selben Ort zu verharren und Mut macht auszubrechen – anwendbar auf viele Lebenslagen.
Dreamers Das Intro des bereits veröffentlichten Duetts «Fall in Line» mit Demi Lovato. Man hört verschiedene Stimmen von Mädchen im Kindergartenalter (unter anderem die vierjährige Tochter von Aguilera) aufsagen, was sie später einmal werden wollen. Die Mädchen sprechen davon Superheldinnen, Ärztinnen oder Präsidentinnen werden zu wollen. Zum Schluss des Intros sagt ein kleines Mädchen, vermutlich die Tochter von Aguilera: «Ich möchte gehört werden!» Christina korrigiert: «Ich WERDE gehört werden!» Ein gelungener Einstieg in die folgende Frauenpower Hymne «Fall in Line».
Fall in Line (feat Demi Lovato) «Little girls listen, cause no one told me, but you deserve to know. In this world you are not beholden, you do not owe them, your body and your soul!» Nahtlos knüpft dieser Song an das vorherige Intro an. Der Song, in dessen kürzlich veröffentlichter Musikclip Christina Aguilera und Demi Lovato als kleine Mädchen gefangen genommen und als Frauen aus einem unterirdischen Film-Gefängnis ausbrechen, handelt davon, dass Frauen nicht dazu da sind, sich anzupassen. «I got a mind to show my strengh. And I got a right to speak my mind. And I’m gonna pay for this. They are gonna burn me at the stake, but I got fire in my veins, I wasn’t made to fall in line!» singen Christina Aguilera und Demi Lovato und wiederholen diese Zeilen gegen den Schluss des Songs mit entschlossenen Stimmen, während eine Männerstimme im Hintergrund den Frauen sagt, dass sie den Mund zu halten, ihren Hintern für ihn rauszustrecken hätten und sie fragt, wer ihnen die Erlaubnis selbständig zu denken gegeben hätte. Definitiv ein weiteres Highlight, das inhaltlich stark an den 2002 von Aguilera veröffentlichten Song «Cant hold us down» erinnert. Übrigens: Die beiden Bösewichte im Musikvideo, welche Aguilera und Lovato gefangen halten erinnern optisch stark an die beiden Disney Produzenten Kelly Ward und Matthew Diamond, mit denen Christina Aguilera und Demi Lovato als Teenager Stars zu tun hatten.
Right moves (feat Keida & Shenseea) Kompletter Stilwechsel. Bei diesem Dancehall Reggae Track fühlt man sich sofort an eine Strandbar versetzt, während Christina von zweideutigen «right moves» singt und dabei von Keida und Shenseea mit Rapeinlagen unterstützt wird.
Like I do (feat. GodLink) Der von Anderson Paak produzierte RnB Song mit elektronischen Einflüssen beginnt mit einer Rapeinlage von Goldlink. Mit Anspielungen an ihre Hits wie Genie in a Bottle oder Ain’t no other man, flirtet Goldlink Aguilera raptechnisch mehr oder weniger originell an, während sie gesanglich antwortet, dass er nicht mit ihr spielen könne, sie lange vor ihm da war und ausserhalb seiner Liga sei. Eingängige Melodie, passend zum derzeitigen Musiktrend, aber kein Highlight.
Deserve Der Song beginnt mit dramatischer Musik und handelt davon, in jemanden verliebt zu sein, jedoch das Gefühl zu haben, diese Person nicht zu verdienen: «Sometimes I think I don’t deserve you, so I say fucked up shit just to hurt you.» Ein Song, der unter die Haut geht.
Twice Twice ist der zweite Song, den Christina von Liberation bereits veröffentlichte. Dabei zeigt Aguilera einmal mehr, dass ihre Stärken in Balladen liegen. Sie singt davon, den Preis der Liebe gefunden und dabei den Verstand verloren zu haben. Und doch, würde sie alles nochmals tun, ohne zweimal («twice») darüber nachzudenken. Gänsehautgarantie.
I don’t need it anymore Wieder ein Intro. Leider, nur ein Intro. Das Intro beginnt mit einem Gospelchor, bevor Christina Aguilera acapella davon singt, dass ihre Augen nun weit geöffnet seien, sie sich wieder lebendig fühle, Veränderung in der Luft liege und es Zeit sei to «take back the power.»
Accelerate (feat. Ty Dolla Sign & 2 Chainz) Accelerate ist der erste veröffentlichte Song des Albums und wurde von Kanye West mitproduziert. Das Video dazu zeigt eine laszive Aguilera, die Milch leckt und sich mit einer klaren Flüssigkeit übergiesst. «Accelerate, come on babe, pick up your speed. Stamina, fill me up, that’s what I need.» singt Christina in diesem Trap-Song und erinnert dabei wieder an ihre sexualisierte Seite. Ein polarisierender Song, der eine Weile braucht, bis er einen in Erinnerung bleibt.
Pipe (feat. XNDA) Im Stil von Accelerate fährt auch dieser Song weiter. Musiktechnisch eher ein groovy midtempo Song, den Christina und ein uns unbekannter Rapper in eher sanften Tönen singen. Als Chillout Song geeignet.
Masochist Wer kennt diese Situation nicht: Man hängt an einer Person, die einen alles andere als gut tut. Man weiss es, man leidet darunter, aber man kommt nicht von dieser Person los. Genau davon handelt dieser an die Nieren gehende Song. «I get all your pleasure in your arms» – «you get all the pleasure in my harm» singt Aguilera mit verzweifelter Stimme, während sie sich beim Refrain hinterfragt: «I must be some kind of masochist, to hurt myself this way. Cause loving you is so bad for me.» Auch den inneren Kampf, den man in diesen Situationen austrägt kommt in diesem Song lyrisch nicht zu kurz: «I should go – I should go – I should go. Yes I know, yes I know, yes I know.» Ein gefühlvoller Song, der durch Mark und Bein geht – unser Favorit, gemeinsam mit Maria. Unless it’s with you Das Album endet mit einer romantischen Ballade. Er handelt davon, sich unsterblich in eine Person zu verlieben, zu einem Zeitpunkt, an welchem man sich gar nicht verlieben wollt: «I don’t ever want to get married… unless it’s with you.» Der Song beginnt in leisen Tönen, während Christina Aguilera zum Abschluss des Songs und damit des Albums ihre gewaltige Stimmkraft unter Beweis stellt. Das Happy End nach den Herzschmerz-Balladen.
Fazit Die stimmgewaltige Christina Aguilera ist mit voller Kraft zurück. «Liberation» ist eine Achterbahnfahrt durch verschiedenste Musikrichtungen und besingt Höhen und Tiefen des Lebens. Das Album beinhaltet kämpferische Frauenpowerhymnen wie «Fall in Line», Selbstfindungsprozesse in «Maria», kraftspendende Mutmacher wie «Sick of Sittin», eindeutige Sextracks wie «Accelerate», «Pipe» oder «Like I do», Sommerhits wie «Right moves», Herzschmerzballaden wie «Twice» und «Maoschist», den Selbstzweifeltrack wie «Deserve» und Liebeserklärungen wie «Unless It’s With You».
Das Album überzeugt mit seinen vielfältigen Musikrichtungen und tiefgründigen Texten, mit denen sich alle identifizieren können und die Situationen von Selbstzweifel, Herzschmerz und den Drang nach Ausbruch kennen. Damit erinnert «Liberation» stark an ihr Album «Stripped», das sich bereits mit ähnlichen Themen beschäftigte. Die Highlights des Albums finden sich denn auch in ihren tiefgründigen, von schmerzhaft ehrlichen bis hin zu kraftspendenden Songtexten, stets begleitet von einer Stimmgewalt, die in der Musikindustrie ihresgleichen sucht.
Aguileras Versuche, in die RnB, Dancehall und Trap-Welt einzutauchen, gelingen ihr zwar mühelos, aber wir bevorzugen die Powerhouse-Aguilera, die uns aus dem Leben singt. Das passt zwar nicht zu den Erwartungen, die die Musikindustrie an augenaufschlagende Popsternchen mit perfekt einstudierten Choreographien haben, doch wie Christina bereits im Trailer zu ihrem Album sagt: Wem’s nicht passt, «can suck my dick». Richtig so, denn wir finden: Comeback definitiv gelungen.
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