Andrew Haigh: «Die Liebe muss man erst lernen»
Sein Film «All Of Us Strangers» läuft jetzt im Kino
Mit seinem ersten Spielfilm «Weekend» schrieb sich Andrew Haigh 2011 prompt in die queere Filmgeschichte ein. Später inszenierte der Brite Werke wie die Walfänger-Miniserie «The North Water» mit Colin Farrell.
Mit einem herzzerreissenden Liebesfilm der besonderen Art meldet er sich nun zurück: In «All Of Us Strangers» sind neben Hauptdarsteller Andrew Scott auch Paul Mescal, Jamie Bell und Claire Foy zu sehen.
Andrew, «All Of Us Strangers» basiert auf dem Roman «Sommer mit Fremden» des Japaners Taichi Yamada, dessen Geschichte du allerdings gehörig verändert hast. In deinem Film ist der Protagonist nun schwul, eine Liebesgeschichte gibt es auch. Was war es denn überhaupt, das dich an der Vorlage ansprach? Mich faszinierte die Grundidee, die ich auch unverändert übernommen habe, nämlich der Gedanke, dass man als Erwachsener noch einmal seinen eigenen Eltern begegnet, die dann aber genauso alt sind, wie man selbst.
Anders als im Fall meines Protagonisten leben meine eigenen Eltern noch, aber ich bin inzwischen 50 Jahre alt und weiss auch, dass sie nicht ewig da sein werden. Mir ging es also um eine Geschichte, die von Verlust und Trauer handelt – und davon erzählt, wie viel im Leben ungesagt bleibt und wie wenig wir mitunter über die Menschen wissen, zu denen wir eigentlich die wichtigsten Beziehungen haben.
Das allein reichte aber noch nicht für einen Film? Die Geschichte um eine schwule Romanze zu ergänzen, fand ich deswegen interessant, weil ich da einen Zusammenhang sehe. Unser Verhältnis zu unseren Eltern und unser Verhältnis zu unserer Sexualität haben miteinander zu tun. Und vor allem wird unser Verständnis von Liebe durch die Beziehung zu unseren Eltern geprägt. Was wir da erleben, hat Auswirkungen auf jede weitere Liebesbeziehung und unser restliches Leben.
Die Liebe ist wirklich eine seltsame Sache, die man erst einmal lernen muss. Man muss verstehen, wie man einem Menschen Liebe geben kann, aber auch wie man sie entgegennimmt. Natürlich sind familiäre und romantische Liebe zwei verschiedene Dinge, aber in jedem Fall artverwandt. In beiden Fällen geht es um Mitgefühl und darum, gesehen und verstanden zu werden. Wenn einem das beim ersten Mal verwehrt bleibt, macht es die Sache auch später schwierig.
Protagonist Adam ist, übrigens auch schon in der Vorlage, ein Drehbuchautor . . . Daran wollte ich nicht rütteln, zumal ich ja ohnehin versuchte, die Geschichte für mich so persönlich wie möglich zu machen. Der Autor des Romans ist selbst übrigens ebenfalls Drehbuchautor. Es ist also kein Zufall, dass der Film sich nun anfühlt wie ein Akt des Schreibens, bei dem man sich in sich selbst zurückzieht. So wie ich versuche, mit dieser Geschichte eine Welt zu erschaffen, erschafft auch mein Protagonist in der Begegnung eine Welt, die nicht ganz real ist. Wir beide nehmen unser eigenes Leben mit Hilfe der Kunst unter die Lupe.
Du gingst dabei nun so weit, dass du als Kulisse für Adams Jugendhaus tatsächlich jenes Haus gewählt hast, in dem du einst aufgewachsen bist. War das dann nicht fast zu persönlich? Den Entschluss habe ich eher instinktiv gefasst, denn beim Schreiben des Drehbuchs hatte ich immer das Haus meiner eigenen Kindheit vor Augen. Obwohl ich da seit 40 Jahren nicht mehr gewesen war, konnte ich mich an jedes Detail erinnern. Aus dem Bauch heraus entschied ich, mal zu gucken, ob wir nicht tatsächlich dort drehen könnten.
Ich hatte allerdings nicht bedacht, wie seltsam und emotional aufwühlend diese Erfahrung werden würde. Im alten Schlafzimmer meiner Eltern oder meinem früheren Kinderzimmer zu stehen, gemeinsam mit Andrew Scott, der als Adam letztlich auch eine Version von mir spielt – das war echt merkwürdig, aber irgendwie auch magisch. Der kleine Junge von damals hätte sich jedenfalls nie erträumen lassen, mit so etwas einmal seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Hatte die Erfahrung etwas Kathartisches? Ja, viel mehr als ich das erwartet hatte. Erst in der Arbeit wurde mir bewusst, wie sehr diese Themen, von denen ich erzählen wollte, in mir ganz persönlich nachhallen würden. Und wie viel Ehrlichkeit mir der Film abverlangen würde. Deswegen bin ich auch sehr erleichtert, wie gut der Film nun beim Publikum anzukommen scheint.
Vermutlich wäre die Katharsis verpufft, wenn alle ihn hassen würden. Stattdessen sass ich neulich bei der Londoner Premiere mit 2000 Menschen in der Royal Festival Hall und spürte ganz deutlich, dass «All Of Us Strangers» auch auf andere eine kathartische Wirkung zu haben scheint. Das war ein sehr, sehr besonderer Moment.
Mit deinem Mann oder deinen Eltern hattest du den Film sicherlich schon vorher geteilt, oder? Mein Mann hat den Film immer wieder im Laufe der Entstehung gesehen, und er bedeutet ihm viel. Der Film ist für mich etwas sehr Besonderes, also ist er das auch für ihn. Und in gewisser Weise handelt er auch von uns beiden, deswegen haben wir eine ganz eigene gemeinsame Beziehung zu «All Of Us Strangers», die wir mit niemandem teilen.
Was meine Eltern angeht, ist die Sache komplizierter. Meinem Vater geht es nicht gut, der wird den Film leider nicht sehen können. Meiner Mutter habe ich ihn vorab gezeigt, was sicherlich nicht einfach für sie war. Meine Kindheit war nicht unkompliziert, meine Eltern trennten sich, als ich neun oder zehn Jahre alt war. All die persönlichen Elemente, die im Film stecken, haben sie natürlich noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise berührt.
Deinen Hauptdarsteller Andrew Scott hast du schon kurz erwähnt. Was machte ihn zum richtigen Mann für diese Rolle? Normalerweise gehöre ich nicht zu denen, die darauf pochen, dass queere Figuren von queeren Schauspieler*innen gespielt werden müssen. Doch in diesem Fall war es mir tatsächlich wichtig, denn es geht hier um enorm spezifische Erfahrungen. Ich hatte das Gefühl, dass ich für die Rolle jemanden brauche, der selbst erlebt hat, wie es ist, seine sexuelle Identität in einer homophoben Zeit zu finden, in der überall schwule Männer an Aids starben.
Jemanden, der vielleicht genau wie ich mit dem Gefühl aufwuchs, dass ein Coming-out eigentlich undenkbar ist und man ewig eine Lüge wird leben müssen. Was man dann auch tut, bis es eben irgendwann nicht mehr geht. Diesen Schmerz, dieses Trauma teile ich mit meiner ganzen Generation, und Andrew und allen anderen schwulen Freunden in meinem Alter stecken diese Erfahrungen bis heute in den Knochen. All das kann man anderen Menschen natürlich erklären und nahebringen. Aber bis ins Letzte verstehen kann das nur, wer es selbst erlebt hat.
Selbst der Moment des Coming-outs, den Adam im Film dann mit viel Verspätung erlebt, ist letztlich etwas, das sich nur schwer nachvollziehen lässt, wenn man es nicht am eigenen Leib durchgemacht hat, oder? Absolut. Natürlich ist das Coming-out für jeden Menschen anders, aber vieles an dieser Erfahrung ist doch immer gleich und gilt auch heute noch. Dieses Aufschieben, manchmal jahrelang, und die Angst, die man dabei aufbaut – das geht einem irgendwie in die DNA über.
Was ja auch kein Wunder ist, denn in dem Moment, wo man sich gegenüber seinen Eltern outet, spricht man etwas aus, das einen fundamental von ihnen unterscheidet. Man sagt ihnen, dass man anders ist als sie, und konfrontiert sie also mit etwas, das sie nie zu hundert Prozent verstehen werden. Ausser natürlich, die eigenen Eltern sind auch queer, dann ist die Lage eine vollkommen andere.
Angesichts all dieser gerade angesprochenen Erfahrungen: Würdest du sagen, dass es so etwas gibt wie eine spezifische queere Einsamkeit? Oh, das ist eine interessante Überlegung. Prinzipiell kann jeder Mensch einsam sein, unabhängig von seiner Sexualität. Nur weil man hetero ist, ist das Leben nicht automatisch unkompliziert. Und es ist auch nicht die Tatsache, dass man schwul oder queer ist, die einen einsam macht. Aber es ist oft die Reaktion der Welt um einen herum auf dich als Person, die zu deiner Einsamkeit führt.
Der Umgang des Umfelds mit der Queerness, das Gefühl des Andersseins, eine über Jahre verinnerlichte Emotionen wie Scham – all das kann natürlich Kern der Einsamkeit sein, die dann vielleicht tatsächlich ganz individuell zu einer queeren Erfahrung wird. Selbst wenn die Symptome von aussen betrachtet die gleichen sind wie bei einem einsamen Heterosexuellen.
Andrew Haigh
… ist ein britischer Filmregisseur und Drehbuchautor, der für seine einfühlsamen und authentischen Filme bekannt ist; geboren am 7. März 1973 in Harrogate, England. Haigh studierte Filmwissenschaft an der Londoner Goldsmiths University und begann seine Karriere mit Kurzfilmen.
Ein Meilenstein in seiner Karriere war sein Durchbruchsfilm «Weekend» (2011), der gefeiert wurde für sein einfühlsames Porträt einer Beziehung zwischen zwei schwulen Männern. Später beeindruckte er die Kritiker*innen mit Werken wie «45 Years» (2015). Haighs ist mit dem Schriftsteller Andy Morwood verheiratet.
Zum Abschluss müssen wir noch kurz über die Musik im Film sprechen. Eine besondere Rolle kommt zum Beispiel «The Power of Love» von Frankie Goes To Hollywood zu. Warum? Zu jedem Song im Film habe ich einen persönlichen Bezug, von den Pet Shop Boys bis hin zu Frankie Goes to Hollywood. Als «Welcome to the Pleasurdome» herauskam, war ich zehn Jahre alt, das war damals mein erstes eigenes Album, glaube ich. «The Power of Love», dieser unfassbar epische Popsong über die Liebe, lief bei mir in Dauerschleife.
Was für eine super queere Band das war, wusste ich damals natürlich noch gar nicht, aber es macht meine kindliche Begeisterung für den Song natürlich noch interessanter. Weil ich heute verstehe, welche Sehnsucht da in mir angesprochen wurde, musste ich das Lied nun einfach in dieser Geschichte zum Einsatz kommen lassen.
Es ist faszinierend, wie schwul britischer Pop damals war. Neben Frankie Goes To Hollywood oder den Pet Shop Boys zollt «All Of Us Strangers» auch Erasure kurz Tribut . . . Eine Zeit wie die erste Hälfte der Achtzigerjahre gab es danach auch nie wieder. Es ist unglaublich, wie viel Queerness damals auf dem Bildschirm zu sehen war, von Culture Club über Wham! bis hin zu den Commuards und Bronski Beat.
Gab es damals irgendwen, der nicht schwul war? (Lacht.) Aber dann kam Aids, mit aller Macht machte sich wieder die Homophobie in der Gesellschaft breit und im Pop wurde alles anders. Zumindest in Grossbritannien. In den USA hatte es diese musikalische Queerness ja ohnehin nie gegeben.
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