Queere Wahrhaftigkeit in «Everybody’s Talking About Jamie»

Jetzt auf Amazon Prime

Max Harwood in “Everybody’s Talking About Jamie.” (Foto: Dean Rogers, © 2020 Twentieth Century Fox)
Max Harwood in “Everybody’s Talking About Jamie.” (Foto: Dean Rogers, © 2020 Twentieth Century Fox)

In der englischen Kleinstadt Sheffield verfolgt ein schwuler Teenager seinen Drag-Traum und bekommt deshalb Anfeindungen zu spüren. «Everybody’s Talking About Jamie» läuft jetzt bei Amazon Prime Video.

Provinz-Teenager, die davon träumen, als Drag Queen Karriere zu machen, mag es am Londoner West End im Publikum immer mal wieder geben haben. Aber auf der Bühne, als Held eines eigenen Musicals, war ein solcher Protagonist im November vor vier Jahren eine echte Sensation. «Everybody’s Talking About Jamie» – geschrieben vom schwulen Autor Tom MacRae, mit Songs vom schwulen Musiker Dan Gillespie Sells (Frontmann der Band The Feeling) und inszeniert vom schwulen Regisseur Jonathan Butterell – wurde damals jedenfalls zum Überraschungserfolg und lief, bis Corona kam, vor vollen Häuser, im kommenden Jahr soll es nach einen kleinen Pause (bzw. Tour durch Grossbritannien) weitergehen.

Seit vergangener Woche ist nun endlich auch die gleichnamige Verfilmung des Musicals zu sehen, zwar nicht wie ursprünglich geplant im Kino, sondern bei Prime Video, doch das tut der Sache keinen Abbruch. Die Geschichte ist dabei gegenüber der Bühnenversion praktisch unverändert: im beschaulichen Sheffield in South Yorkshire wünscht sich der 16-jährige Jamie (Max Harwood) nichts sehnlicher, als in Drag auf einer Bühne zu stehen und vom Publikum gefeiert zu werden. Dass er schwul ist, weiss längst jeder, und abgesehen von ein paar pöbelnden Mitschülern sowie seinem Vater, der kaum mehr Kontakt zu seinem Sohn hat, hat kaum jemand ein Problem damit.

Für das Coming-out als Drag Queen und den Traum, in High Heels, Makeup und Perücke zum Abschlussball der Schule zu gehen, muss Jamie trotzdem allen Mut zusammennehmen. Und selbst mit der Unterstützung seiner besten Freundin Pritti (Lauren Patel) und seiner ihn bedingungslos liebenden Mutter (Sarah Lancashire) sowie schließlich der unerwarteten Bekanntschaft mit Hugo (Richard E. Grant) alias Loco Chanelle ist die Sache alles andere als ein Kinderspiel.

Regisseur Butterell und Drehbuchautor McRae, die die Adaption ihres Musicals gleich selbst vorgenommen haben, erlagen glücklicherweise nicht der Versuchung, am schlichten Charme ihres Stücks zu rütteln. «Everybody’s Talking About Jamie» reiht sich nahtlos ein in ähnliche britische, bittersüsse Feelgood-Filme wie «Ganz oder gar nicht» oder «Billy Elliot»: auch hier verläuft die Geschichte bis hin zum unausweichlichen Happy End eigentlich exakt so, wie man es erwartet – und doch kann man sich ihrem Charme kaum entziehen.

Die – zugegebenermassen überproduzierten – Songs haben grösstenteils echtes Ohrwurmpotential und klingen mit ihrem zeitgemässen Pop-Appeal kaum nach angestaubtem Musical-Schmonz, womit sie den letztjährigen Netflix-Film «Prom» definitiv in die Ecke stellen. Newcomer Harwood in der Hauptrolle trägt den Film erstaunlich locker auf seinen zarten Schultern, und auch der Rest des Ensembles ist sehenswert, nicht zuletzt natürlich der Oscar-nominierte und in queeren Rollen erprobte Richard E. Grant («Can You Ever Forgive Me») – der übrigens mit «This Was Me» einen brandneuen Song verpasst bekam, den er zusammen mit Holly Johnson von Frankie Goes to Hollywood singt – und die exzellente TV-Grösse Sarah Lancashire («Happy Valley»).

Auch thematisch trifft der sympathische Film den richtigen Ton und nimmt seine Figuren ernst, ohne den Humor zu kurz kommen zu lassen. Selbst in den teilweise aufwändigen Musikvideos produzierten Musicalnummer wird emotionale Wahrhaftigkeit gross geschrieben (siehe allen voran: «Wall in My Head»), und auch dass sich am Ende nicht jeder Konflikt in Wohlgefallen auflöst, ist stimmig. Jamie ist dabei ein überzeugender Protagonist: einerseits ein durchaus selbstbewusster junger Schwuler zu sein und sich andererseits trotzdem weiterhin als Aussenseiter zu fühlen und Ängste zu haben, ist schliesslich kein Widerspruch.

Was aussen vor bleibt, ist lediglich die Dimension, die Drag heutzutage als popkulturelles Phänomen einnimmt. Die mittlerweile weltumspannende Erfolgsgeschichte von «RuPaul’s Drag Race», dank der wir heute Queens in Shows von Heidi Klum oder Werbespots genauso sehen wie in schlechten ZDF-Sitcoms oder eben auf Musical-Bühnen, kommt in «Everybody’s Talking About Jamie» nicht vor. Das befreit den Film davon, seine eigene Existenz reflektieren zu müssen – und macht auch deswegen Sinn, weil hier eine wahre Geschichte erzählt wird.

Dass der echte Jamie Campbell, dessen Drag-Traum 2011 Thema einer BBC-Reportage war, die als Inspiration für das Musical diente, ein Teenager war, ist zehn Jahre her. «RuPaul’s Drag Race» steckte damals noch in den Kinderschuhen, als günstig produzierte Kultshow auf einem winzigen Nischensender, die ausserhalb der USA noch nicht zu sehen war. Jamie und sein Drag-Alter Ego Fifi La True waren ihrer Zeit also ohne Frage voraus.

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