Nicht-binär in Film und Fernsehen – Der blinde Fleck
Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Fragen, auf die viele Menschen irgendwann in ihrem Leben eine Antwort suchen. Dankbarer Stoff für Coming-of-Age-Geschichten. Nun entdeckt das deutsche Fernsehen auch nicht-binäre Menschen. Doch nach oben ist noch eine Menge Luft.
Ende Juni wurde zum 72. Mal der Deutsche Filmpreis verliehen, der seit einigen Jahren auf den Namen Lola hört. Ausgezeichnet wurde wieder die beste männliche Hauptrolle und die beste männliche Nebenrolle. Dasselbe Spiel bei den Damen der Schöpfung. Es wurden also hier die Männer und dort die Frauen ausgezeichnet, aber wer sich als divers oder nicht-binär bezeichnet, der kommt nicht vor. Nicht dass es wahnsinnig viel auszuzeichnen gäbe an nicht-binären Rollen im deutschen Film, aber das ist eine andere Geschichte. Gewissermassen ein Drama für sich.
Andere Preise sind da schon weiter. Bei den Grammys werden genderneutrale Preise seit zehn Jahren vergeben, seit diesem Jahr auch bei den BritAwards. Auch bei den MTV Movie Awards sind die Schauspielpreise seit mittlerweile fünf Jahren genderneutral.
Im Winter 2020 hatte auch die Berlinale angekündigt, nur noch jeweils einen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Haupt- und in einer Nebenrolle als genderneutrale Preise zu vergeben. Die beiden Festivalleiter, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, erklärten: Die Auszeichnungen im Schauspielfach nicht mehr nach Geschlechtern zu trennen, sei ein Signal für ein «gendergerechteres Bewusstsein in der Filmbranche».
Und was ist mit den Frauen? Nicht alle schrien damals laut Hurra. Das Gleichstellungsbündnis Pro Quote Film erklärte, man wolle vor allem erstmal mehr Frauen sehen, vor und hinter der Kamera. Denn in der Filmbranche sind zwei Drittel der Rollen für Männer geschrieben. Auch im Fernsehen sieht man doppelt so viele Männer wie Frauen.
Der Bundesverband Schauspiel (BFFS) kritisierte damals, was die Berlinale treibe, bringe für Gender- und Diversitäts-Gerechtigkeit eher nichts. Die Streichung von Geschlechterkategorien gehe zulasten der Gleichberechtigung von Schauspielerinnen. Interessanterweise gewannen dann bei der Berlinale vor allem Frauen. Gleich 2021 ging der Silberne Bär für die beste schauspielerische Leistung an Maren Eggert in «Ich bin dein Mensch».
Anfang dieses Jahres kündigte aber auch der BFFS eine Neuausrichtung der Preiskategorien des Deutschen Schauspielpreises an. In diesem September werden erstmals genderneutrale Preise vergeben, denn: «Schauspieler*innen sind vielfältig, leben von Vielfalt und sollen nicht aufgrund ihrer Genderidentität von der Möglichkeit ausgeschlossen sein, nominiert zu werden.»
Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, man verringere die Zahl der zu Ehrenden, hat man die Gewinnmöglichkeiten erweitert. Es gibt die neue Kategorie «Duo» und wie schon zuvor die Kategorie «Nachwuchs», zwei hübsche genderneutrale Oberbegriffe, die sich nicht um männlich oder weiblich scheren.
Einerseits eine gute Entwicklung hin zu mehr Offenheit. Für Heinrich Horwitz ist das alles immer noch nicht zufriedenstellend. Heinrich war in der Serie «Bruder Esel» zu sehen, auch im SWR-Tatort «Kriegsspuren» – in Frauenrollen. Nun ist Heinrich nichtbinär, lässt aber auch «divers» und «queer» gelten und ist auch offen bei den Pronomen. Mails oder Briefe aber, die mit «Sehr geehrter Herr Horwitz» beginnen, ärgern Heinrich.
Weg mit der herkömmlichen binären Ansprache «Am liebsten sollte man die herkömmlichen binären Ansprachen ganz überwinden, am besten mit einer systematischen Veränderung», sagt Heinrich im Gespräch mit MANNSCHAFT. «Was ist falsch daran, andere mit Guten Tag oder Hallo zu begrüssen? Als ob es zu unfreundlich erscheinen könnte, wenn man eine Nachricht nicht mit Liebe X oder Sehr geehrte Y beginnt.»
Die Kategorien, in denen die meisten Schauspielpreise vergeben werden, sind nicht die einzige Herausforderung. Noch gibt es kaum Rollen für nichtbinäre Menschen wie Heinrich. Auch Agenturen zeigen sich wenig offen für Menschen, die sich nicht nach Mann oder Frau einsortieren lassen möchten.
Man sehe sich den Webauftritt einer grossen Agentur wie Players in Berlin an. Sie vertritt neben «Die Mitte der Welt»-Star Louis Hoffmann etwa auch Moritz Bleibtreu, Meret Becker und Corinna Harfouch. Man findet sie unter Actors und Actresses. Player vertritt auch Writers und Directors, hier trifft man aber keine Unterscheidung nach Geschlecht – vermutlich hat man deshalb die englischsprachigen Berufsbezeichnungen gewählt. Als Schauspieler*in aber kriegt man Heinrich hier nicht unter. Und Players ist kein Einzelfall.
«Man kann mich doch einfach fragen: Wie möchtest du angesprochen werden? Welches Pronomen ist korrekt?»
Spiessrutenlauf am Set Und dann der Spiessrutenlauf bei Dreharbeiten. «Die Leute am Set fühlen sich oft überfordert und haben Angst, im Umgang mit mir in irgendwelche Fallen zu tappen», berichtet Heinrich. Nicht nur bei der Frage der korrekten Toilettennutzung. Dabei wäre es so einfach: «Man kann mich doch einfach fragen: Wie möchtest du angesprochen werden? Welches Pronomen ist korrekt?»
Auch um so etwas im Vorfeld abzuklären, wäre natürlich eine Agentur hilfreich. Denn die meisten Menschen wissen nicht, wie sie mit nichtbinären Personen umgehen sollen. Und weil die nötige Sensibilität fehlt, finden immer wieder diskriminierende Begegnungen statt.
Vor allem brauche es sichere Räume am Set, sagt Heinrich, und unabhängige Stellen, an die sich Menschen mit Diskriminierungserfahrungen wenden können. Die sollten dort Menschen antreffen, die nicht der Produktion angehören. «Es braucht eine Gesellschaft, die offen bleibt, Fragen stellt und Spass daran hat, Neues zu lernen», findet Heinrich. Nur ist es im deutschen Filmgeschäft oder bei Fernsehproduktionen mit der Spassbereitschaft noch nicht allzu weit her.
Nicht dass man im Jahr 2022 beim Thema Nichtbinarität noch von einem Randphänomen sprechen könnte, das sich bequem übersehen liesse. Erst kürzlich hat sich die Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe als nichtbinär geoutet, zuvor John Cameron Mitchell («Shortbus») und Garbage-Sängerin Shirley Manson. Die Krankenhaus-Serie «Grey’s Anatomy» zeigt in ihrer 18. Staffel, die seit März bei Disney+ zu sehen ist, die erste nichtbinäre Person: Ärzt*in Dr. Kai Bartley, gespielt von E.R. Fightmaster, ebenfalls nichtbinär.
Fehlende Repräsentation im Fernsehen Auch in Deutschland tut sich etwas. Ende Mai stellte das ZDF die erste Eigenproduktion mit nichtbinärer Hauptfigur vor, die Instant-Dramaserie «Becoming Charlie». Geschrieben, das ist nicht selbstverständlich, von jemandem, der etwas von dem Thema versteht: Lion H. Lau, selber nichtbinär. «Ich hatte nie die Chance, Menschen wie mich im deutschen Fernsehen zu sehen», sagt Lion. Dabei machten Film und Fernsehen einen grossen Teil der menschlichen Erfahrungswelt aus – auch, wenn es um fiktionale Geschichten geht.
Fernsehen, sagt Lion, schaffe die Möglichkeit, sich selbst in Figuren wiederzuerkennen, sich selbst besser zu verstehen oder neue Handlungsräume zu eröffnen. Und es sorge für Sichtbarkeit. «Nichtbinäres Leben ist ein blinder Fleck in weiten Teilen unserer Gesellschaft, und das hat auch damit zu tun, wen das Fernsehen zeigt und wen nicht.»
«Wenn ich nur einer Person damit eine Stütze sein kann, dann bin ich glücklich und zufrieden.»
Wer sich als nichtbinär oder trans identifiziert, ist im Alltag Anfeindungen oder gar Gewalt ausgesetzt. Aber das soll sich mit «Becoming Charlie» ändern. Die Serie verspricht laut Lion «hundertprozentige Authentizität». Menschen aus dem nichtbinären Spektrum erhalten hier erstmals eine Identifikationsfigur. «Wenn ich nur einer Person damit eine Stütze sein kann, dann bin ich glücklich und zufrieden», sagt Lion.
Das Projekt war eine gemeinsame Idee von Kerstin Polte (Regie), Greta Benkelmann (Regie) und Lion. Mit der Geschichte und einer Produktionsfirma wurden sie beim ZDF vorstellig, und es ging dann auch sehr schnell.
«Das ZDF hatte grosse Lust auf den Stoff. Nicht nur weil man sich auf die Fahne schreiben kann: Wir sind die Ersten, die das Thema fiktiv aufbereiten. Das hat sich nie jemand vorher getraut im deutschen Fernsehen, wo man immer vorsichtig und ängstlich und zögerlich ist.»
Lion bestand auf Darsteller*in aus nichtbinärem Spektrum Das Casting war herausfordernd. Denn für Lion war klar: Die Hauptfigur muss von einem Menschen gespielt werden, der Charlies Erfahrungsperspektive teilt – vor allem, was das Leben im nichtbinären Spektrum angeht. Lion war es ernst: «Hätte eine cis Person diese Rolle bekommen, hätte ich meinen Namen aus den Credits genommen.»
Sämtliche Castingportale und Karteien wurden durchstöbert, doch die Meisten teilen ihre Schauspieler*innen in männlich und weiblich. In Lea Drinda (aus der Serie «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo») schliesslich fand man die geeignete Person. Bei Crew United, dem Filmbranchen-Netzwerk, haben Filmschaffende neben männlich und weiblich die Möglichkeit, «divers» als Geschlechtseintrag zu wählen. Und überhaupt wollte das Trio hinter der Serie schon länger mit Lea arbeiten.
Lernprozess beim Dreh Die gut 13 Drehtage waren anstrengend, sagt Lion. «Aber am Set war eine kraftvolle Energie, und im Team wandelte sich vieles. Menschen, die andere vorher mit falschen Pronomen angesprochen oder falsch gegendert haben, begannen, sich nach den Pronomen zu erkundigen. Das fand ich alles so berührend, dass ich am letzten Tag geweint habe. Selbst wenn die Serie niemand anschaut, haben wir schon etwas erreicht.»
Die Serie wird ihr Publikum finden, ob in der Mediathek oder bei ZDFneo. Und es werden weitere Serien oder Filme folgen, die die Lebensrealität nichtbinärer Personen zeigen. Schwierig sei es aktuell noch, sie auch in Nebenrollen zu zeigen, glaubt Kai S. Pieck. Der Gründer und Kopf der Queer Media Society (QMS) hält das Thema Nichtbinarität für zu komplex, als dass es sich in einem 90-Minuten-Spielfilm bei einer Nebenfigur umsetzen liesse. «Das wird zu kompliziert, eine Beiläufigkeit zu erzielen und den Charakter so darzustellen, dass er nachvollziehbar ist.»
Bei Netflix funktioniere das schon gut, aber da fänden sich auch viele junge Leute, die queere Inhalte und Geschichten sehen wollen. «Im Hauptabendprogramm von ARD oder ZDF kannst du das Thema nicht über eine Nebenfigur erzählen, sonst versteht das Publikum gar nichts mehr», meint Pieck.
Lion sieht das etwas anders. «Ich finde es wichtig und notwendig, dass nichtbinäre Menschen auch Nebencharaktere sein dürfen, ohne dass ihre Nichtbinarität gross und lang erklärt wird. Dass sie einfach mal nur da sein dürfen. Hier geht es um einen normalisierenden Umgang mit uns. Weg von der Angst, einen hyperkomplexen Sachverhalt bis in die letzte Reihe verständlich erklären zu müssen. Zuschauer*innen dürfen auch mal was nicht verstehen, das ist völlig okay.»
Dafür brauche es Vertrauen der Regie und Leute, die gendersensibel casten. Die meisten Castingplattformen funktionieren aber laut Lion noch nach der binären Unterteilung in Mann und Frau.
«Zuschauer*innen dürfen mal was nicht verstehen, das ist okay.»
Und es braucht Autor*innen wie Lion, die Geschichten von nichtbinären Personen erzählen. In der QMS gibt es etwa die Arbeitsgemeinschaft TIN Gruppe (trans, inter und nichtbinär), die aktuell rund 40 nichtbinäre und trans Mitglieder zählt. Darunter ein paar Schauspielende, aber nur zwei Autor*innen. «Cis Personen denken und schreiben nichtbinäre Personen und ihre Geschichten aber einfach (noch) nicht mit», sagt Pieck, das gelte selbst für queere Filmschaffende. Darum kann die Coming-of-Age-Serie um Charlie nur der Anfang sein.
Was tut sich in Sachen Geschlechtergerechtigkeit? Und es gibt noch eine Menge zu tun: Im Herbst 2021 legte die MaLisa Stiftung ein Update ihrer Untersuchung aus dem Jahr 2017 über «Audiovisuelle Diversität» vor gemeinsam mit ihren Partnerorganisationen. Was hat sich in Sachen Geschlechtergerechtigkeit getan? Die Ergebnisse für den Bereich Fernsehen zeigen, dass es in einigen Bereichen deutliche Fortschritte gibt, in anderen aber noch grosser Handlungsbedarf besteht, um zu einer ausgewogenen Repräsentation der Bevölkerung zu kommen. Beim Thema Geschlechtsidentitäten nämlich: Nach der Analyse von rund 33 000 Protagonist*innen und Hauptakteur*innen aus fast 3000 TV-Sendungen und 3400 Kinder-Sendungen musste man konstatieren: «In der Stichprobe konnten nichtbinäre und Menschen mit anderen Geschlechtsidentitäten so gut wie nicht identifiziert werden.»
Erfolge vor Gericht
Im April 2022 urteilte das Oberlandesgericht Frankfurt/Main, die Deutsche Bahn habe es zu unterlassen, eine nicht-binäre Person mit «Herr» oder «Frau» anzureden. Eine nicht-binäre Person hatte geklagt, denn beim Ticketkauf sind Kund*innen gezwungen, sich für die Anrede «Frau» oder «Herr» zu entscheiden. Die falsche geschlechtliche Anrede, so das Gericht, stellt einen Verstoss gegen das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung dar (MANNSCHAFT berichtete).
Es war bereits die zweite Instanz, die der Bahn vorschreibt, Kund*innen nicht mehr ausschliesslich mit «Mann» oder «Frau» anzusprechen. Auf das Unternehmen kommen mögliche Strafzahlungen in Höhe bis zu 250 000 Euro bei jedem Ticketkauf zu, wenn die klagende Person weiter falsch angesprochen wird.
Schon Anfang des Jahres hatte das Oberlandesgericht Karlsruhe entschieden: Wenn beim Online-Shopping (in dem Fall ging es um ein Bekleidungsunternehmen) nur die Anreden «Frau» und «Herr» zur Auswahl stehen, ist das unerlaubte Diskriminierung nicht-binärer Menschen und ein Verstoss gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wegen des Geschlechts.
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