Liebe für alle bei Indiens erster LGBTIQ-Partnervermittlung
Es handelt sich um keine Dating-App, über die man Gelegenheitssex findet, erklärt die Gründerin
Seit September 2018 ist Homosexualität in Indien legal. Das ändert jedoch nichts daran, dass LGBTIQ-Menschen im Alltag grösstenteils unsichtbar sind. Die grosse Liebe zu finden ist schwierig. Abhilfe schafft eine junge Geschäftsfrau mit einer Heiratsagentur für Homo-, Bisexuelle und trans Menschen.
Als Urvi Shah ihren Eltern 2015 von ihrer Geschäftsidee erzählte, eine Partnerbörse für Homosexuelle zu eröffnen, hielten diese sie für verrückt. Ihr Vater zweifelte gar an der Existenz von Homosexuellen, hatte er doch bisher in seinem Leben noch keine getroffen. Seine Tochter klärte ihn auf und stellte ihm schwule Freunde vor.
Es sei ein Teufelskreis, so die junge Inderin: Da nur ein Bruchteil der Gemeinde offen mit der eigenen Sexualität umgehe, bleibe die Gesellschaft in dem Glauben, dass Schwule und Lesben nicht existierten.
«Heteros müssen definitiv viel offener werden, aber die Homos müssen auch anfangen, sich zu trauen, ihr wahres Ich und Leben zu leben», glaubt Shah.
Leichter gesagt als getan in einer Gesellschaft, in der Homosexualität mit Teufelsaustreibungen und schwarzer Magie behandelt wird und Ärzte glauben, dass dies die Folge eines schlimmen Traumas aus der Kindheit sei und medikamentös behandelt werden könne. Shah kennt einen 78-jährigen Mann aus Ahmedabad, der seit 45 Jahren Tabletten nimmt: «Er ist immer noch schwul», so ihre nüchterne Bilanz.
90 % aller Eheschliessungen in Indien sind angeblich arrangiert.
Gemeinschaft auf Kosten der Individualität Besonders der Einfluss der Familie auf das Leben der Kinder macht vielen Mitgliedern der Szene zu schaffen. Individualität, Selbstverwirklichung und Eigenständigkeit werden kleingeschrieben, der Wille der Eltern und der Ruf der Familie dagegen umso grösser. Weit verzweigte grossfamiliäre Strukturen sind typisch, und bis Mitte 20 lebt man oft noch bei den Eltern. Erst wenn eine Frau heiratet, verlässt sie das eigene Zuhause und zieht zu ihrem Mann und dessen Eltern. Entsprechend nehmen die neugierigen Fragen von Verwandtschaft und Nachbarn ab einem gewissen Alter zu.
Liebe kann man lernen Wann heiratet er oder sie? Hat man schon jemand Passendes gefunden? Mit «man» sind die Eltern gemeint, die über Anzeigen oder Apps Ehepartner für ihre Kinder suchen. Körpermasse, Hautfarbe, Ausbildung, Religion, Einkommen, Kochkünste oder Wertanlagen sind wichtige Kriterien, wenn es darum geht, das eigene Kind unter die Haube zu bringen. 90 % aller indischen Ehen sollen arrangiert sein – unvorstellbar für romantische Europäer, die fest daran glauben, die grosse Liebe auf einem Spaziergang oder an der Supermarktkasse zu treffen. In Indien ist man sich hingegen sicher, dass man Liebe lernen könne; sie könne schliesslich wachsen und, nun ja, man arrangiere sich eben.
Hinduistische Priester führen Zeremonien für Homopaare durch Was aber, wenn der Sohn gar kein Interesse an Frauen hat, oder die Tochter Frauen liebt? «In den meisten Fällen werden die Eltern das überhaupt nicht ahnen, geschweige denn wissen», glaubt Urvi Shah. Vor drei Jahren hat sie Indiens erste und bislang einzige Ehepartnerbörse für gleichgeschlechtliche Paare gegründet, das Arranged Gay Marriage Bureau (zur Homepage). Der Name kann verwirren, denn auch wenn gelebte Homosexualität in Indien seit September 2018 kein Verbrechen mehr ist, kann noch lange nicht offiziell geheiratet werden. vEinige hinduistische Priester führen jedoch Zeremonien durch, und so gab auch Hrishi Sathawane seinem vietnamesischen Freund Vinh in seinem Heimatort Yavatmal, im Bundesstaat Maharashtra, 2017 das Jawort. Als erste öffentliche Hochzeit eines gleichgeschlechtlichen Paares sorgte die Zeremonie vor Familie und Freund*innen landesweit für Schlagzeilen.
Fakeprofile gibts hier nicht Die Gesetzeslage interessierte Urvi Shah von Anfang an wenig. «Jede und jeder braucht irgendwann eine Partnerin oder einen Partner fürs Leben, das will ich auch Schwulen und Lesben ermöglichen, unabhängig davon, was das Gesetz erlaubt.»
Eine absurde Idee? Mit Hilfe eines Bekannten liess sie das Unternehmen 2015 in Chicago registrieren, um bürokratischen Problemen in Indien aus dem Weg zu gehen. In den letzten Jahren ist das Angebot der Plattform vielfältiger geworden, das Prinzip ist aber gleichgeblieben. Shah geht es darum, Singles langfristig zusammenzubringen.
«Wir sind keine Dating-App, über die man Gelegenheitssex findet», stellt sie klar. Jede Registrierung sei aufwendig und kostenpflichtig, das schrecke viele ab. Im Schnitt bekommt sie pro Woche 700 bis 800 Anfragen, die entsprechend ihrer Kriterien sortiert werden. Das Mindestalter ist 24. Singles, die einen Partner oder eine Partnerin in Indien suchen, zahlen einmalig 15'000 Rupien, umgerechnet 183 Euro, respektive 209 Franken. Soll der oder die Zukünftige im Ausland leben, werden 35 000 Rupien (428 Euro/488 Franken) aufgrund eines zusätzlichen Aufwands fällig. Dabei macht Shah keinen Hehl daraus, dass sie keine gütige Samariterin, sondern eine Geschäftsfrau ist. «Für viele ist das sehr teuer, aber von irgendwas muss ich schliesslich auch meine 26 Mitarbeiter*innen bezahlen.»
Fast alle ihrer Verwandten sind besorgt, dass sie aufgrund ihrer Arbeit lesbisch werden könnte.
Ihre Angestellten sind alle selber Teil der LGBTIQ-Community, stammen aus unterschiedlichen Bundesstaaten und sprechen verschiedene Sprachen. In Indien gibt es 121 Sprachen – ein reines Angebot auf Englisch oder Hindi kam für Shah deswegen nicht in Frage. Wichtig ist ihr auch, dass alles gründlich überprüft wird und ihre Kund*innen sowohl psychisch gesund als auch finanziell unabhängig sind. Auch Fakeprofile könne sie sich nicht erlauben. Geschiedene Singles werden aufgenommen, verheiratete Frauen oder Männer dagegen nicht. Am Ende dieses Screenings verbleiben von 800 Anfragen etwa 80 interessierte Klient*innen. «Und mit denen telefoniere ich dann», sagt Shah und lacht. Das sei ihre Leidenschaft, Lebensgeschichten kennen zu lernen, bei einem bevorstehenden Coming-out zu beraten und natürlich passende Partner*innen zu finden.
«Ich checke alle Informationen persönlich, egal ob angegebene Abschlüsse, Berufe oder das Aussehen. Wenn ich lese, dass jemand aus der Provinz ist, selber nicht gerne ausgeht, aber ein gutaussehendes Partymonster mit Sixpack und grossem Vermögen aus Mumbai sucht, werde ich stutzig.» Von den anfänglich 800 Interessierten registrierten sich am Ende meist vier bis fünf.
Ehen und Scheinehen im Angebot Bereits nach ein paar Monaten öffnete sie ihre Vermittlungsagentur auch für trans Personen. Registriert sind mittlerweile 1400 Homo- und Bisexuelle, 700 trans Menschen und drei Queers. 129 davon leben in Deutschland, 14 in der Schweiz. Die Erfolgsbilanz nach gut zwei Jahren: 36 Paare haben bereits geheiratet – legal im Ausland oder in einer Zeremonie in Indien. Weitere 113 Paare leben in einer festen Beziehung. Die meisten ihrer Klient*innen sind bereits geoutet, das ist aber keine Voraussetzung. So bekommt Shah auch zahlreiche Vermittlungsanfragen zu einer sogenannten «Marriage of Convenience» – kurz MOC genannt. Das Konzept dahinter bereitet ihr jedoch bis heute Kopfschmerzen. «Dagegen habe ich mich lange gewehrt. Es ist ein absurdes und riskantes Modell», findet sie. Es funktioniert so: Ein Schwuler und eine Lesbe, beide nicht geoutet, werden von ihren Familien gedrängt, zu heiraten. Anstatt eine*n heterosexuelle*n Partner*in zu finden, suchen die beiden einander aus und heiraten. Von dieser Scheinehe weiss niemand – ausser die beiden. Der Vorteil: Der Druck der Hochzeit ist weg, ein Verstellen dem Ehepartner im Privaten gegenüber ist hinfällig; keine Küsse, kein Kuscheln, kein Sex. Der Nachteil: Ein gigantisches Lügenkonzept; die Familien erwarten Kinder, in den meisten Fällen wohnt das Paar mit den Eltern des Mannes unter einem Dach. Es ist ein enormer Stress, dieses Doppelleben aufrechtzuhalten und gleichzeitig plausible Ausreden und Zeit zu finden, um sich mit seinen «echten» Partner*innen zu treffen. Nach langen Überlegungen hat sich Shah schliesslich im Oktober 2017 für ihre MOC-Kund*innen geöffnet, stellt aber Bedingungen. Vor der Registrierung müssen alle Interessenten persönlich einen Psychologen treffen, der sie über die Konsequenzen einer solchen Heirat aufklärt. «Wenn die Wahrheit aus Angst schon nicht in Frage kommt, schlage ich statt einer MOC-Hochzeit immer vor, die Eltern davon zu überzeugen, dass man partout nicht heiraten will.» Angenommen werde ihr Vorschlag selten. 300 MOC-Klient*innen sind aktuell registriert, drei Hochzeiten haben bereits stattgefunden. «Der leichte Weg in Indien ist immer eine Hochzeit, das ist ein riesiges Problem», findet die 25-Jährige.
Das Konzept der Scheinehen bereitet ihr bis heute Kopfschmerzen.
Die Hoffnung ruht auf kommenden Generationen Das Ende von Artikel 377 eröffnet viele neue Möglichkeiten für Indiens LGBTIQ-Community und damit auch eine Diskussion über die weiteren Ziele. Bei Raghav Awasthi, einem Anwalt für Menschenrechte in Delhi, sind bereits die ersten Petitionen für eine «Ehe für alle» eingegangen. «Ich werde wohl erst zum Jahreswechsel zu einer Prüfung kommen, aber es ist für mich der nächste logische Schritt», so der 31-Jährige. Doch die Frage, ob die Gleichstellung der Ehe wirklich oberste Priorität hat, spaltet die Szene. Feministische NGOs lehnen das Konzept der monogamen Ehe grundsätzlich ab, viele trans Menschen wie Lakshmi Hemant kämpfen statt für neue Ehegesetze um Arbeitsplätze, Respekt und das pure Überleben. Urvi Shah will kommende Generationen aufklären. Fast alle ihrer Verwandten seien besorgt, dass sie aufgrund ihrer Arbeit lesbisch werden könnte. Der Gedanke sei völlig abwegig, aber Ältere zum Umdenken zu bewegen, sei sehr schwer. «Stattdessen müssen Kinder rechtzeitig über Sex, Missbrauch und LGBTIQ aufgeklärt werden – und zwar bevor sie anfangen, Pornos zu schauen», findet Shah. Sie hat ein kleines Curriculum entworfen, das genau diese Themen kindergerecht behandelt. Zum neuen Schuljahr stehen die Kurse als Zusatzangebot an verschiedenen Privatschulen in Ahmedabad auf dem Lehrplan. Staatliche Schulen haben abgelehnt, sie hätten kein Interesse an einer vielfältigen Sexualaufklärung – leider, betont Shah.
Der Urteilsspruch zum Fall von Artikel 377 begann mit einem Zitat von Goethe: «Ich bin nun, wie ich bin; So nimm mich nur hin!» Es folgte ein Loblied auf Individualität und ein freies Leben. Doch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs ist keine Garantie für Akzeptanz in der Gesellschaft. Zu gross und mächtig wirken in Indien der Einfluss von Kultur, Traditionen, Religion und sozialen Strukturen. Eines macht Urvi Shah, Deep Soni und Lakshmi Hemant aber Hoffnung: 600 Millionen Inder*innen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, sind jünger als 25 Jahre. «Wenn wir sie offen und tolerant erziehen, haben wir in 50 Jahren ganz automatisch ein anderes Indien», glaubt Shah. Das gehe nicht von jetzt auf gleich, wichtig seien jedoch zwei Dinge: anfangen und dranbleiben.
Text: Angela Weiss
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