Die stille Moderevolution: Frei sein zu tragen, was man will
Die Zahl der Menschen, die sich als nicht-binär identifizieren, ist nicht gross, aber steigend. Die Modeindustrie hat sie als Zielgruppe entdeckt: Unisex-Kollektionen und genderneutrale Labels weichen die Grenzen zwischen Herren- und Damenkleidung zusehends auf. Warum wir alle davon profitieren.
Modetrends gelten als flatterhaft. Menschen, die in den Augen anderer zu sehr auf ihr Äusseres achten, werden schnell als oberflächlich abgestempelt. Und doch wissen wir alle, dass die Mode zu unseren mächtigsten Mitteln gehört, um unsere Identität auszudrücken. Wie wir uns kleiden, stylen und frisieren, hat einen Einfluss darauf, wie wir von anderen wahrgenommen werden. «Kleidung ist die Haut der Seele», sagte Designer Guido Maria Kretschmer in einem Interview.
Kleider machen Leute Die Mode formt erste Eindrücke und ist ein Indikator für Beruf, Bildungsstand, gesellschaftliche Schicht, Herkunft, Zugehörigkeit und oft auch für eine Weltanschauung. Uniformen stehen für Autorität und Einheit, sowohl in der Armee und der Polizei als auch im Supermarkt oder im Flugzeug. Eine Studie der Universität Michigan kam zum Schluss, dass Ärzt*innen im weissen Kittel als vertrauenswürdiger und kompetenter wahrgenommen werden als Kolleg*innen im Freizeitlook. Was wir anziehen, provoziert eine Reaktion bei unseren Mitmenschen. Plakativ ausgedrückt: Die Kleidung ist der Grund, weshalb Draqueens in Realityshows beklatscht und nachts auf der Strasse zusammengeschlagen werden. Mode ist auch ein Anker sozialer Normen.
Und doch ist die Mode im Wandel, so wie sie es schon immer war. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war rosa als «starke» Farbe für Jungs gedacht, während hellblau als «sanft» interpretiert wurde und für Mädchen reserviert war. In der Renaissance trugen Männer aus der Aristokratie Schuhe mit hohen Absätzen, um grösser zu wirken. Röcke wurden über Jahrhunderte hinweg sowohl von Männern als auch von Frauen getragen. Massgebend für die Art und Form der Kleidung war in erster Linie die soziale Schicht, viel weniger das Geschlecht.
In jüngster Zeit war die Mode fast durchgehend gegendert – von Kopf bis Fuss, von jung bis alt. Im Säuglings- und Kindsalter sind es Farben und Motive, die einen Aufschluss über die Träger*innen geben: Grün- und Blautöne mit Fahrzeugen oder Raubtieren für Jungs, Sonnenuntergangstöne mit Einhörnern und Prinzessinnen für Mädchen. Als Erwachsene stöbern wir ausschliesslich in unserer Kategorie. Von Hut und Sonnenbrille bis hin zu Handschuhen, Gurt und Schuhen: Modelabels geben uns das Angebot gemäss unserem Geschlecht vor.
Das funktioniert auch ziemlich gut für die Durchschnittsbevölkerung. Sie findet in der Herren- respektive Frauenabteilung Kleidung, die passt und auch ihren Geschmack trifft. Anhand der Verkaufszahlen sehen Modelabels, was besonders gut ankommt, und bringen ähnliche Modelle auf den Markt. Schwieriger ist es für Menschen, die sich ausserhalb des Durchschnitts bewegen. Gross gewachsene Frauen und zierlich gebaute Männer zum Beispiel finden in ihren Abteilungen in den gängigen Geschäften nicht immer das passende Kleidungsstück oder Accessoire. Das kann sowohl trans als auch cis Personen betreffen.
Es geht um Freiheit – Freiheit zu tragen, was man will
Von Frauen in Hosen und Männern in Röcken Seit einiger Zeit ist in der Modewelt nun eine Revolution im Gange. Es entstehen unabhängige Labels für genderneutrale Kleidung, grosse Textilhandelsunternehmen bringen Unisex-Kollektionen heraus, die sie mit grossen Budgets vermarkten. Es ist eine vergleichsweise stille Revolution, wenn man die teils heftigen Debatten rund um Gender und nicht-binäre Identitäten verfolgt. Von «Woke-Kultur» und linkem Moralismus ist trotzdem die Rede, wenn man die Kommentarspalten von Berichten über genderneutrale Mode liest. Der Tenor: Warum ist das nötig? Die Antwort ist einfach. Es geht um Freiheit – Freiheit zu tragen, was man will, ohne dafür ausgegrenzt oder gar angegriffen zu werden.
Man stelle sich den Aufruhr vor, als Aktivistin Amelia Bloomer 1851 in den USA als eine der ersten Frauen der Moderne Hosen trug. Viele Frauenrechtlerinnen taten es ihr gleich und brachen damit ein jahrhundertealtes Tabu, denn Hosen waren in Europa und Nordamerika ausdrücklich Männern vorbehalten. Die breite Bevölkerung reagierte mit Spott und Hohn, zehn Jahre später erklärte Bloomer ihren Reformversuch für gescheitert.
Im 20. Jahrhundert gab es vereinzelte Schübe, was die Akzeptanz für hosentragende Frauen anging. Beim Ski- und Radfahren sowie während den Weltkriegen, als Frauen bei der Fabrikarbeit einspringen mussten, wurde die Hose für die Frau goutiert, bei Künstlerinnen wie Marlene Dietrich drückte man gerne ein Auge zu. Aus westlicher Sicht gibt es heute nichts Selbstverständlicheres als Frauen in Hosen, die volle Akzeptanz kam jedoch erst spät: in den Sechzigerjahren.
Kein Tabu mehr, aber in unseren Gefilden überhaupt nicht salonfähig, sind Männer in Röcken. In den letzten dreissig Jahren schickten Modedesigner*innen immer wieder Männer im Kleid über den Laufsteg, doch so richtig etablieren wollte sich der Look nie. Ein um die Beine gewickelter Stoff scheint noch zu weiblich, zu emaskulierend zu sein. Wagen sich Männer doch in den Rock, gibt es unweigerlich Schlagzeilen. So geschehen bei Brad Pitt bei einer Filmpremiere letztes Jahr in Berlin oder bei Busfahrern in Frankreich, die dem Dresscode in der Sommerhitze ein Schnippchen schlagen wollten. Oder bei rund 50 Aktivisten in Zürich, die zum «Rethink Masculinity Day» am 5. April 2023 im Rock zur Arbeit gingen.
Nachfrage und fehlendes Angebot Die Freiheit zu tragen, was man will, ist das eine. Die Verfügbarkeit des gewünschten Kleidungsstücks das andere. Es gibt Frauen, die Jeans in der Männerabteilung kaufen, weil bei Frauenhosen oft die Hosentaschen fehlen. Wer auf der Suche nach einem unkonventionellen Schnitt, Muster oder einer nicht traditionell männlichen Farbe ist, wird in der Männermode oft nicht fündig. «Frauenschuhe» werden im Handel nur bis zu einer bestimmten Grösse, «Männerschuhe» erst ab einer bestimmten Grösse angeboten. Pro Geschlecht hat die Branche ein bestimmtes Sortiment vorgesehen. Die so individualistische Mode hat doch ihre Grenzen.
Genderneutrale Labels wollen diese Lücke nun füllen. Die Frau, die auf der Suche nach dem einfach geschnittenen T-Shirt ist. Der Mann, der gerne einen Schuh mit Absatz tragen möchte. Die nicht-binäre Person, die sich beim Onlineshopping nicht durch die Männer- und Frauenkategorie durchklicken will. Für diese Menschen gibt es nun Alternativen, die nicht nach geschlechterspezifischen Grössen oder konventionellen Schnitten gefertigt wurden. Das Sortiment wird grösser und für mehr Menschen zugänglich.
Man kann die genderneutrale Mode mit der Ehe für alle vergleichen. Sie ist als Ergänzung gedacht, als Bereicherung, und nimmt niemandem etwas weg. Männer- und Frauenmode soll nicht abgeschafft werden, keineswegs. Selbst wenn sich immer mehr Menschen als nicht-binär identifizieren, fühlt sich heute eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit binären Kleidungskategorien wohl.
Die Moderevolution kommt auch ihr zugute. Sie bietet Möglichkeiten, um Neues auszuprobieren und den eigenen Stil zu erweitern. Wir erhalten neue Werkzeuge, um unsere Persönlichkeit auszudrücken. Und das ist doch schlussendlich das, worum es bei der Mode geht.
Lange hatte der Herrenslip einen miesen Ruf. Jetzt sind knappe Höschen angeblich wieder angesagter. Oje, denkt da mancher Bierbauchmann. Welchen Trends die Männerunterhose so unterliegt (MANNSCHAFT berichtete).
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