Die glücklichste kleine Sextankstelle von Hollywood
Die neue Netflix-Serie «Hollywood» von Ryan Murphy basiert auf dem Skandalbuch «Full Service» von Scotty Bowers, der in den 1940er- und 50er-Jahren Escorts an Hollywoodstars vermittelte
Auf Netflix ist am 1. Mai die neue Ryan-Murphy-Serie «Hollywood» gestartet: über einen Escort-Service, der aus einer Tankstelle heraus operiert. Sie hat den vielsagenden Namen «Golden Tip Gasoline». Gutaussehende Jungs bieten dort ihre Körper an durchfahrende Kunden und Kundinnen an. Das Ganze basiert auf der «skandalösen» Autobiografie von Scotty Bowers, der genau solch eine Tankstelle betrieb und die grössten Hollywood-Legenden der 1940er- und 50er-Jahre «bediente».
Murphy hat jetzt einmal mehr seine Kunst des «höheren Abschreibens» unter Beweis gestellt und die Scott-Bowers-Geschichte fürs Fernsehen recycelt: in einem opulenten Mehrteiler, der das angebliche «goldene» Zeitalter in Los Angeles in fast geleckt-perfekter Sauberkeit auferstehen lässt – um die Abgründe hinter der Bilderbuchfassade aufblitzen zu lassen. (MANNSCHAFT berichtete über den Serienstart.)
Es ist schon acht Jahre her, dass Bowers Buch «Full Service» auf Englisch erschien und speziell in den USA einschlug wie eine Bombe. Denn: Der damals 88-Jährige hatte sich entschieden, am Ende seines Lebens die Geschichte zu erzählen, was hinter der Glitzerfassade von Hollywood und der berühmtesten Hollywoodstars «wirklich» abging in Bezug auf Sex. Er berichtete davon, wer welche Vorlieben hatte, mit wie vielen Jungs oder Mädchen versorgt werden musste, ob er/sie den Ehemann oder die Ehefrau dabei zuschauen lassen wollte, wie die Presseabteilungen der Studios solche «Eskapaden» mit Fake News überdeckten und ein anderes «sauberes» Image kreierten, das in den Köpfen der meisten Menschen bis heute umhergeistert, wenn sie an Legenden wie Katharine Hepburn, Spencer Tracy oder Vivien Leigh denken – von Rita Hayworth, Errol Flynn oder Charles Laughton ganz zu schweigen. Bowers behauptete, mit ihnen allen (!) im Bett gewesen zu sein. Und er hatte gewartet, bis alle tot waren, bevor er aus dem Nähkästchen plauderte.
Damit stiess er eine riesige Diskussion an. Die Fragen lauteten: Darf er das überhaupt, posthum so viele Menschen outen? Und stimmt das, was er da sagt, wenn niemand mehr bei den Betroffenen nachfragen kann und sie keine Chance haben, zu widersprechen? Ist es legitim, das mühsam aufgebaute Image von einigen der beliebtesten Filmstars aller Zeiten einzureissen? Und wozu das Ganze? Was man auch jetzt, angesichts von Murphys Serie fragen kann: Was hat eine nachrückende Generation davon, damit im Jahr 2020 konfrontiert zu werden?
Gerüchte als Quelle für die Geschichtsschreibung Wer sich mit den Biografien von LGBTIQ aus der Vergangenheit beschäftigt, wird immer das Problem haben, dass sich Details zu deren sexueller Orientierung schwer finden lassen – somit sind Biografen nach gängigen Wissenschaftsstandards immer in der Beweispflicht, der sie nicht nachkommen können. Denn LGBTIQ haben in Zeiten, wo das Abweichen von Heteronormativität nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern vielfach auch kriminalisiert war, alles dafür getan, dass ihr Intimleben privat blieb. In vielen Fällen haben nach dem Tod Freunde und Familien jegliches «Beweismaterial» vernichtet. D. h. die LGBTIQ-Geschichtsschreibung ist oftmals auf Gerüchte angewiesen. Und ein solches Gerüchtebuch ist die Scotty-Bowers-Publikation, allerdings handelt es sich hier um Geschichten, von denen der Autor behauptet, daran selbst beteiligt gewesen zu sein. Es ist also ein Augenzeugenbericht!
In ihrem Buch «Staging Desire: Queer Reading of American Theater History» plädieren die Herausgeber Kim Marra und Robert A. Schanke im Vorwort eindringlich dafür, dass man für ein solches «Queer Reading» den Wert von Gerüchten sowie Klatsch und Tratsch «nicht unterschätzen» darf. Denn dieser würde uns «die offizielle nicht-aufgeschriebene Geschichte» vermitteln: «Gerüchte sind die Geschichte derjenigen, die nicht selbst mit ihrer eigenen Stimme erzählen können.» Und erst wenn man Gerüchte öffentlich macht und darüber diskutiert, können sich auch andere zu Wort melden und Narrative ergänzen bzw. korrigieren.
Selbst minimale «Fakten» öffentlich machen Ich selbst habe das als Kurator mehrerer Ausstellung erlebt, beispielsweise im Projekt zum Regisseur Erik Charell («Im weissen Rössl»), der Anfang der 1930er-Jahre von Berlin nach Hollywood ging – auch, weil Los Angeles damals die deutsche Hauptstadt als Anything-Goes-Hotspot für Schwule ablöste. Nachdem wir dazu im Schwulen Museum unsere Ausstellung eröffneten und nur minimale «Fakten» zu Charells Lebenspartnern finden konnten, meldete sich die Witwe eines dieser Lebenspartner und erzählte kurz vor ihrem Tod, wie es wirklich war (aus ihrer Sicht). Mehr noch: Sie übergab mir umfangreiches Fotomaterial, Kopien von Pässen und Reisedokumenten, und sie berichtete auch von den anderen Männern, mit denen Charell nach seiner Rückkehr nach Deutschland in den 60er-Jahren zusammenlebte. Während er gleichzeitig biedere Heimatsoperetten fürs Kino produzierte, die nur sehr oberflächlich betrachtet «bieder» sind.
Während Charell ein Glücksfall war, im Sinn, dass sich verschiedene Menschen meldeten mit Material und Geschichten, lief die Sache sehr anders im Fall einer Siegfried-Wagner-Ausstellung, die ich ebenfalls kuratieren durfte. Da erregten sich die Gemüter massiv, weil von verschiedenen schwul-lesbischen Künstler*innen die Rede war, die der Sohn von Richard Wagner nach Bayreuth auf den Grünen Hügel holte und ein für die 1920er-Jahre bemerkenswertes LGBTIQ-Netzwerk erschuf – bei dem es auch um sexuelle Gefälligkeiten ging, neben denen Ryan Murphys «Hollywood» fast harmlos wirkt.
Jedenfalls gab es massiven Protest gegen die begründeten und dokumentierten Behauptungen, dass einzelne Künstler*innen zu diesem Netzwerk gehörten. Und der Protest kam überraschenderweise von lesbischen und schwulen Forschern, die Angst hatten, ihr Idol – über das sie Bücher geschrieben hatten – würde in den Schmutz gezogen werden. Mehr oder weniger der gleiche Vorwurf, den sich Scotty Bowers anhören musste, als «Full Service» 2012 herauskam.
Als 2017 der Regisseur Matt Tyrnauer zu dem Buch und mit Bowers die Doku «Scotty and the Secret History of Hollywood» drehte, sagte darin Stephen Fry: «Alles was er [mit seinem Buch] tat, war zu zeigen, dass diese Leute echt waren!» Soll heissen, dass sie «echte» Leben geführt haben, nicht die Lügengeschichten, die Hollywoodpresseabteilungen sich ausgedacht haben. Und daran zu erinnern, dass es solche «echten» LGBTIQ-Leben auch schon damals gab, so wie zu allen Zeiten, macht «Hollywood» trotz des gnadenlos kitschigen Retro-Looks höchst aktuell.
Das wirkliche Leben hinter zugezogenen Vorhängen Im Buch «The Reason of Things» schrieb A. C. Grayling 2002: «Die Popularität von Biografien, die schon immer beachtlich war, hat noch zugenommen, seit Biografen sich die Freiheit herausgenommen haben, auch intimste Details zu erzählen. Das ist eine gute Entwicklung. Denn das wirkliche Leben findet hinter zugezogenen Vorhängen statt, nicht in der Öffentlichkeit. Um also ein Gefühl von einer glaubwürdigen menschlichen Geschichte zu vermitteln, muss der Biograf Schleier lüften.»
Das tat Bowers auf bemerkenswerte Weise. Während schon 2012 etliche Geschichten bekannt waren, etwa die von den legendären Poolpartys von Kultregisseur George Cukor oder die von Rock Hudson, die spätestens nach seiner Aids-Erkrankung in den 1980er-Jahren publik wurden (und dann schnell wieder unter den Teppich gekehrt wurden), so enthielt Bowers Buch so viele Details zu wirklich jedem in Hollywood, dass man aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. Geschichten, die darauf verwiesen, dass Sexualität immer ein Spektrum ist mit unendlichen Schattierungen und Spielarten. Und Bowers spielte mit. Auf die Frage, ob er schwul oder bi oder hetero sei, antwortet er in der Doku: «Ich bin alles!»
Man sieht ihn im Film mit seiner Ehefrau Louis, einer Sängerin. Sie sagt, sie kannte ihren Mann damals nicht und auch nicht die Person, die er zu jener Zeit war. Aber sie lebt mit ihm in Häusern, die ihm dankbare schwule Klienten vermacht haben. Und man sieht in der Doku verschiedene der alten Kollegen von der Tankstelle, die Bowers Geschichten bestätigen. Sie alle geben an, den Sex mit Männern nur wegen des Geldes gehabt zu haben – sie sagen aber auch, dass er ihnen Spass gemacht habe.
Diese Art von Offenheit und Unkompliziertheit steht in scharfem Kontrast zur offiziellen Geschichtschreibung bzgl. der Fünfziger, wo meist von der neuen rigorosen Moral die Rede ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrte und wo Homosexuelle regelrecht gejagt wurden als Gefahr für die Nation – damals war Homosexualität gleichbedeutend mit Kommunist, und beides galt es radikal auszumerzen. Bowers macht klar, dass diese (gesellschafts)politische Realität viele Menschen (besonders Männer) zwang, so diskret wie möglich zu sein. Weswegen sie sich vorzugsweise an seiner Tankstelle versorgen liessen. Und sich dann hinter den verschlossenen Vorhängen austobten, von denen A. C. Grayling spricht.
Ryan Murphy rückt diese zugezogenen Vorhänge in «Hollywood» ins Bild und reisst sie dann auf, so dass wir in lichtdurchfluteten Hotelzimmern sehen, was wirklich passierte.
«Schick mir 15 Jungs rüber, denen ich einen Blowjob geben kann» Gleich in der ersten Folge tritt Rock Hudson als Charakter auf, neben vielen anderen Legenden. Und gleich in der ersten Folge sieht man auch den berüchtigten Wohnwagen hinter der Tankstelle. Von diesem berichtet Bowers ausführlich und beschreibt, wie Kunden dort mit den Tankwarten verschwanden. In «Hollywood» öffnet David Corenswet als Tankstellenneuling Jack Castello die Wohnwagentür und sieht dort den Komponisten Cole Porter sitzen.
Jack ist entsetzt und sagt zu Ernie, gespielt von Dylan McDermott, dass er das nicht könne: Sex mit Frauen ja, mit Männern unter keinen Umständen. Und Ernie – eine fiktive Version von Scotty Bowers – erklärt Jack kurz und bündig, wie die Sache läuft, falls er weiterarbeiten wolle. Und das muss Jack, weil er das Geld für seine junge Familie braucht. Er findet einen Weg, wie er das Cole-Porter-Problem löst. (Wir verraten hier nicht wie.)
In der Doku erzählt Bowers, dass Cole Porter einer seiner treuesten Kunden gewesen sei und ihn regelmässig angerufen habe mit Nachrichten wie dieser: «Schick mir 15 Jungs rüber, denen ich einen Blowjob geben kann!» Im Buch berichtet er von Cary Grant und seinem Lover Randolph Scott, mit denen er und andere Tankwarte Dreier hatten. Bowers erzählt sogar, wie er den jungen Rock Hudson mit dem älteren Cary Grant verkuppelte. Wie er im Laufe der Jahre für Katherine Hepburn 150 Mädchen organisierte, und dass Hepburns angebliche Affäre mit Spencer Tracy nichts als ein Cover-up war, denn Tracy war schwul – Bowers war einer seiner vielen geheimen Sexpartner. Eine aussereheliche Beziehung mit Hepburn schien den Studiobossen eine bessere Geschichte für die Öffentlichkeit, als den katholischen Iren mit «betrogener» Ehefrau zu outen. Was Tracys Karriereende bedeutet hätte.
In der Bowers-Doku kommt LGBTIQ-Hollywoodhistoriker William J. Mann zu Wort, der 2001 das Buch «Behind the Screen: How Gays and Lesbians Shaped Hollywood 1910-1969» herausgebracht hatte. Er sagt, die Bowers-Geschichten würden zeigen, wie schwer es damals war, jemanden zu finden, den man lieben konnte. Und das betont Murphy in seiner Serie: Es geht nicht um Sex, es geht um unterdrückte Sehnsüchte und Freiheit, so sein zu können, wie man ist. Und wie man sein möchte.
Hauptfigur Jack erklärt gleich bei seinem ersten «Einsatz» (mit der wunderbaren Patti LuPone in einer Glanzrolle), dass er deshalb von einer Hollywoodkarriere träume, weil ihm das Kino gezeigt habe «wie sich das echte Leben anfühlt» – er wolle «lebendig» sein, was im Original «being alive» heisst und der Titel eines berühmten Lieds des schwulen Komponisten Stephen Sondheim ist, aus dessen Musical «Company», in dem Patti LuPone gerade aufgetreten ist.
Rassismus, Frauenfeindlichkeit und religiöse Minderheiten So schliessen sich die Kreise. Murphy zeigt, was er für LGBTIQ vor 70 Jahren bedeutete, «alive» zu sein, und welche Strategien sie entwickeln mussten, um das zu erreichen. Murphy mischt dies mit anderen Fragen rund um Rassismus, Frauenfeindlichkeit und der Ausgrenzung von religiösen Minderheiten. Und er verpackt das Ganze so oberflächlich «harmlos», dass ein Mainstream-Publikum anfangs kaum merkt, was für ein Pulverfass ihm da untergeschoben wird.
In einem Artikel von Patrick Freyne in der Irish Times heisst es zu «Hollywood»: «Für einen kurzen und brillanten Augenblick dachte ich, Ryan Murphy als König-des-Subversiven hat diese Geschichte einer Tankstelle aus den späten 1940er-Jahren als Trojanisches Pferd benutzt, um die Verantwortlichen bei Netflix an der Nase herumzuführen. Das war auch Zeit!»
«Glee»-Schöpfer Ryan Murphy mit Stern auf «Walk of Fame» geehrt
Nun gibt es bei Netflix bekanntlich viele LGBTIQ-Beispiele. (MANNSCHAFT berichtete über neun neue queere Seriencharaktere.) Aber hier tut Ryan Murphy doch etwas anderes und besonderes. Er erzählt einem jungen Publikum, dass man «Geschichte» nie oberflächlich lesen sollte, sondern immer hinter die Vorhänge schauen muss, um die «Wahrheit» zu finden. Dabei gibt er jüngeren LGBTIQ (sowie überhaupt jüngeren Zuschauern) zugleich einen Crash-Kurs in Hollywoodgeschichte, denn welcher 20-Jährige weiss heute noch, wer Rock Hudson, Cole Porter oder Charles Laughton waren?
Und älteren Netflix-Kunden wird gezeigt, dass die vermeintlich «heile» Welt von früher alles andere als «heil» war, nicht mal bei den vielgeliebten Stars von damals, von denen wir glaubten, alles zu wissen. Gerade das macht sie aber modern und spannend.
Gerichtsverfahren gegen Ryan Murphy Die Irish Times schlägt für Murphys Serie einen anderen, passenderen Titel vor: «The Happiest Little Sex Garage in Hollywood.» Und ergänzt: «Es ist oft tief bewegend zu sehen, wie Geschichte neu geschrieben wird, um diejenigen, die von ihr unterdrückt wurden, zu befreien. Es ist aber auch seltsam, dabei rückblickend über Menschen zu urteilen, die im wahren Leben eine solche Agency nicht hatten, die ihr Schicksal nicht ändern konnten und die gezwungen waren, sich in der hintersten Ecke des Closet zu verstecken. Statt die ganze Hollywood-Saga so aufzubereiten, wie hier geschehen, wäre es machtvoller gewesen, die wahren Geschichten zu erzählen, wie Murphy das in einem anderen Format mit ‹Feud: Bette and Joan› getan hat.»
Mehr Serien auf Netflix und Amazon Prime mit LGBTIQ-Charakteren
Wegen «Feud» wurde Murphy allerdings von einer noch lebenden Protagonistin verklagt: Olivia de Havilland, inzwischen 103 Jahre alt und eine dieser Hollywoodlegenden, von denen auch «Hollywood» handelt. De Havilland bestand darauf, dass ihr mühsam aufgebautes «wohlanständiges» Image nicht zertrümmert werden dürfe mit vulgären Bemerkungen, die ihr von Murphys Drehbuchautoren in den Mund gelegt wurden. Vielleicht hat er sich deshalb bei «Hollywood» für Fiktion entschieden, hinter der man allerdings mühelos die realen Charaktere erkennt. Und diese kennenzulernen, lohnt auf alle Fälle!
Man darf gespannt abwarten, ob Netflix auch die Scotty-Bowers-Doku ins Programm nimmt. Sie ist auf alle Fälle als DVD erhältlich.
Scotty Bowers starb übrigens letzten Oktober in Los Angeles. Die Ryan-Murphy-Serie hat er also nicht mehr sehen können.
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