Über 100 Missbrauchsfälle! «Aufarbeitung bei Pfadfindern erschwert»
Betroffen waren nach Angaben der Wissenschaftler bei den Pfadfindern ebenso viele Mädchen wie Jungen
Mehr als 100 Fälle, Dutzende mutmassliche Täter: Die Pfadfinder*innen in Deutschland arbeiten sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen auf. Eine neue Studie zeigt aber wohl nur die Spitze des Eisberges.
Von Britta Schultejans, dpa
«Ich habe immer gedacht, ich bin ein Einzelschicksal», sagte Sophie Ruhlig. «Sprich da nicht drüber, dir glaubt sowieso niemand», habe er gesagt. «Du machst ja auch mit.» Zwei Jahre lang sei sie von ihrem damaligen Pfadfinderführer sexuell missbraucht worden, sagte Ruhlig. Und heute weiss sie: Ein Einzelfall ist sie nicht.
Mehr als 100 Betroffene und Dutzende Beschuldigte listet eine neue Studie auf, die Missbrauchsfälle bei den Pfadfindern in Deutschland aufgearbeitet hat. «Grenzenlose Orte» ist die Untersuchung überschrieben, die das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) am Donnerstag in München vorstellte.
Sie geht von mindestens 50 Beschuldigten und 123 Betroffenen im Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) aus. Dazu kommen der Studie zufolge 24 Beschuldigte und 26 Betroffene, die zwar aus dem «Pfadfinderkontext» stammen, aber nicht zum Verband gehören. Nach Angaben des Bundes handelt es sich um die erste derartige Untersuchung in Deutschland, die sich auf einen Jugendverband bezieht. Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, sprach von einem wichtigen Signal, das Vorbild sein sollte auch für andere Jugendverbände, in den eigenen Reihen Aufarbeitung zu betreiben.
«Erstmals zeigt diese Aufarbeitungsstudie damit auch, wie Machtgefälle, Rangordnungen und falsch verstandene Loyalitäten in Jugendverbänden insbesondere auch von sehr jungen Tätern ausgenutzt wurden – und diese Loyalität Aufarbeitung bei den Pfadfindern bis heute erschwert», sagte sie. «Die besondere Vertrautheit bei Ausflügen, Fahrten oder in Zeltlagern gekoppelt mit einem grossen Machtgefälle und spezifischen Gruppenritualen und Gruppenzwängen haben ein oft undurchschaubares Klima von Nähe, Angst und Übergriff geschaffen.»
Betroffen waren nach Angaben der Wissenschaftler bei den Pfadfindern ebenso viele Mädchen wie Jungen. Die Täter seien allerdings nahezu ausschliesslich männlich. Dabei gebe es «zwei Prototypen», heisst es in der Studie: der ältere, erwachsene Pfadfinder und der Jugendliche oder junge Erwachsene, «der seine Stellung als Leitungsfigur benutzt, um Jüngere sexuell auszubeuten».
Die «riskantesten Orte» waren laut der Studie, Pfadfinderlager, Reisen und Stammestreffen. Übergriffe habe es «im Rahmen von Spielen und Ritualen» gegeben, aber auch in privaten Situationen; wenn Kinder und Jugendliche nach Hause gefahren worden seien beispielsweise.
Die Situation bei den Pfadfindern sei «sehr spezifisch», sagte Peter Caspari vom IPP, und mit der in der katholischen Kirche beispielsweise schwer zu vergleichen. Hier seien «sehr junge Menschen in Verantwortungssituationen gefangen». Das sei ein «grosser Unterschied zu anderen Tatkontexten wie katholische Kirche, wo es klare Hierarchien von Erwachsenen gab, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind».
Eine weitere Besonderheit bei den Pfadfindern: Weil oft sehr junge Leute in Leitungsfunktionen seien, sei es nicht ganz einfach, zwischen völlig einvernehmlichen Beziehungen unter Jugendlichen und denen, in denen jemand seine Macht missbraucht, zu unterscheiden.
Das IPP München, das unter anderem sexuelle Gewalt in der Odenwaldschule und im oberbayerischen, katholischen Kloster Ettal untersucht hat, hat die Studie gemeinsam mit «Dissens – Institut für Bildung und Forschung» in Berlin durchgeführt. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf den Jahren zwischen 1976 und 2006. Die Forschenden gehen von einem grossen Dunkelfeld aus – unter anderem, weil aus einigen Bundesländern überhaupt keine Informationen geliefert worden seien.
Caspari sagte, es gebe Andeutungen, dass Menschen sehr viel wussten, aber nichts sagen wollten, seine IPP-Kollegin Helga Dill vom IPP berichtete von «anonymen Briefen, in denen schwere Formen von sexualisierter Gewalt geschildert wurden». Als mögliche Gründe, warum Opfer bis heute schweigen, nannte sie Angst vor dem Täter, aber auch «überdauernde Loyalitäten gegenüber der eigenen Pfadfindergruppe», das Festhalten an einem Idealbild. Man wolle kein Nestbeschmutzer sein. Ausserdem sei die Angst gross, nicht mehr dazuzugehören.
Der Bund der Pfadfinder*innen wurde 1976 gegründet, ist nach eigenen Angaben interkonfessionell und überparteilich und erreicht rund 30’000 Mitglieder. Ziel seiner pädagogischen Arbeit soll es sein, Kindern und Jugendlichen «Gemeinsinn und Verantwortung, Weltoffenheit und Umweltbewusstsein» zu vermitteln.
«Wir sind erschüttert, an wie vielen Stellen es dem BdP in der Vergangenheit nicht gelungen ist, seine Mitglieder vor sexualisierter Gewalt und (Macht-)Missbrauch zu schützen», teilte die BdP-Bundesvorsitzende Annika Schulz mit. «Es wurde geschwiegen, weggesehen.» Caspari wird deutlicher: Der Umgang mit Betroffenen sei «von Ignoranz geprägt» gewesen. «Aus den Augen, aus dem Sinn.»
Bei den US-Pfadfindern dürfen erst seit 9 Jahren auch Homosexuelle als Betreuer und Teamleiter tätig sein (MANNSCHAFT berichtete).
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