«Das erste Coming-out kann eine Art ‹Trainingseffekt› haben»
Mit Anfang 20 wurde bei Cordt paranoide Schizophrenie diagnostiziert
Unkontrollierbares Abgleiten von Denken und Wahrnehmung, dazu Verfolgungswahn, Panikanfälle, Ohnmacht: Mit Anfang 20 wurde bei Cordt (40) paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Nach und nach erzählte er es Angehörigen, Freund*innen, Kolleg*innen – es war sein zweites Coming-out.
Cordt, wird es leichter, sich mit einer psychischen Krankheit zu outen, wenn man das schwuler Mann schon hinter sich hat? Kann man das überhaupt vergleichen? Ich würde schon sagen, dass man es vergleichen kann. Es hatte etwas sehr Befreiendes. Man öffnet sich und gibt etwas preis, dafür bekommt auch vieles an positives Reaktionen zurück. Von daher würde ich schon sagen, dass das erste Coming-out eine Art von «Trainingseffekt» haben kann. Man kann ungefähr einschätzen, was dieser Schritt mit einem macht und mit welchen Reaktionen man rechnen kann.
«Ich kann jetzt nicht einfach rumsitzen und Netflix gucken»
Waren die vergleichbar? Als ich mich als schwul geoutet habe, mit 18, da war ich noch ein junger Mensch. Da hatte ich noch kein grosses Selbstbewusstein. Heute fühle ich mich viel geerdeter. Entsprechend lief mein zweites Coming-out. Wenn man positiv mit so einer Geschichte nach aussen geht, bekommt man auch ganz viele positive Rückmeldungen. Komische Rückmeldungen gab es noch nie, höchstens vielleicht mal hinter meinem Rücken, aber das ist mir egal.
Du beschreibst in deinem Buch eine heftige Episode in Italien. Da irrst du tagelang durch Italien. Die Art, wie du sie erzählst, hat etwas Lakonisches, beinahe Komisches. Kannst du das Erlebte heute mit Humor sehen? Das geht Hand in Hand: Durch die zeitliche Distanz kann ich mit Humor darüber schreiben, und der Humor schafft auch seinerseits eine Distanz.
Du hast vor einigen Jahren deinen heutigen Mann kennengelernt. Wie offen bist du mit deiner Krankheit Schizophrenie umgegangen? Ich habe es nach ein paar Monaten mal angesprochen, man will ja beim Kennenlernen nicht gleich all die negativen Seiten erzählen. Er hat sehr verständnisvoll reagiert. Lars ist Apotheker und hat einen professionellen Blick auf solchen Erkrankungen.
Du hast seit der Diagnose verschiedene Medikamente ausprobiert und sie wegen der Nebenwirkungen wieder abgesetzt. Eins machte dich müde, ein anderes nahm dir die Lust auf Sex. Anfangs nahm ich Risperidon, davon war meine Libido recht stark eingeschränkt. Damals war ich Single und diesen Status zu ändern, war dadurch etwas schwierig. Mittlerweile komme ich recht gut klar. Als Hauptnebenwirkung gibt es allerdings die Gewichtszunahme – obwohl man das mit dem Medikament eigentlich gar nicht in Verbindung bringt. Als schwuler Mann, wenn man ein bisschen narzisstisch veranlagt ist, kommt das nochmal dazu. Darum kann ich auch Leute verstehen, die sagen, sie möchten gar keine Tabletten mehr nehmen. Allerdings wirkt jedes Medikament von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich.
Lesen in Zeiten von Corona
Medikamente sind die eine Seite, dazu hast du eine Therapie gemacht. In der Therapie habe ich gelernt, wie man auf sogenannte softe Faktoren achtet – etwa darauf, ein sicheres soziales Umfeld aufzubauen. Es geht darum, positive Kräfte, die man bereits in seinem Leben hat, zu verstärken. Ich finde es wichtig, nicht einseitig auf Medikamente zu setzen – aber sie können ein Teil der Behandlung sein. Daneben kann man lernen eigenverantwortlich zu handeln, damit man der Krankheit nicht hilflos ausgesetzt ist.
Cordt Winkler: «ICH ist manchmal ein anderer: Mein Leben mit Schizophrenie» (Goldmann, 240 Seiten)
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