«Durch die Ehe für alle entsteht für niemanden einen Nachteil»
Der Staat solle den Menschen nicht vorschreiben, wie sie ihr Privatleben zu gestalten haben, sagt die Bundesrätin
Der Bundesrat und das Parlament empfehlen dem Volk die Ehe für alle zur Annahme. Ein Ja wäre auch ein Sieg für die Justizministerin Karin Keller-Sutter.
Frau Bundesrätin, die Ehe für alle beschäftigt die Medien und die Bevölkerung sehr. Weshalb? Das erstaunt mich nicht, das ist ein sehr emotionales Thema, es geht um die Liebe. Zugleich gehen die Wertvorstellungen bei der Ehe für alle auseinander. Wir merken aber, dass sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren in den letzten Jahren verändert hat. Die Gesellschaft ist offener geworden (das zeigen auch die Umfragen – MANNSCHAFT berichtete).
Das Frauenstimmrecht wurde erst vor 50 Jahren angenommen, die Ehe für alle vielleicht am 26. September. Warum hinkt die Schweiz bei gesellschaftlichen Themen anderen Ländern hinterher? Sicherlich hat das auch mit unserem direktdemokratischen System zu tun. In anderen Ländern verabschiedet die Regierung ein solches Gesetz, bei uns braucht es oftmals eine Volksabstimmung. Das sehe ich nicht als Nachteil, denn ich bin überzeugt davon, dass der Wandel aus der Gesellschaft kommen muss. Wenn der Wandel reif ist, dann folgt die staatliche Gesetzgebung. Es ist daher wichtig, dass die Bevölkerung diese Fragen diskutieren und mitbestimmen kann.
Sie bezeichnen sich als praktizierende Katholikin. Können Sie die Ehe für alle mit Ihrem Glauben vereinen? Eindeutig ja. Es geht bei der Ehe für alle um die Zivilehe und nicht um eine kirchenrechtliche Frage. Für mich ist klar: Der Staat soll den Menschen nicht vorschreiben, wie sie ihr Privat- und Familienleben zu gestalten haben.
Die Gegner*innen begründen ihr Nein zur Ehe für alle mit dem Kindswohl. Können Sie die Argumente der Gegner*innen nachvollziehen? Ich respektiere, dass es unterschiedliche Meinungen dazu gibt. Aber für mich ist klar, und das zeigen auch Studien, dass nicht die Familienkonstellation entscheidend ist für die Entwicklung eines Kindes, sondern die Fürsorge und die Zuwendung, die es erhält. Ob es einem Kind gut geht, hängt nicht von der sexuellen Orientierung der Eltern ab, sondern von der Qualität ihrer Beziehung.
Spielt die Ehe für alle auch in Ihrem privaten Umfeld eine Rolle? Ich bin mit einem gleichgeschlechtlichen Paar befreundet. Bis jetzt hatten sie kein Interesse daran, ihre Partnerschaft eintragen zu lassen. Sollte die Vorlage vom Volk angenommen werden, werden sie aber vielleicht heiraten.
Die Nein-Sager*innen sind eher älter, eher männlich. Wie kann man diese Wählergruppe zu einem Ja überzeugen? Mir ist wichtig, dass sich für die allermeisten Menschen mit der Abstimmung gar nichts ändert. Niemandem entsteht dadurch einen Nachteil, traditionelle Familien soll und wird es weiterhin geben. Ich verweise aber auch auf die gesellschaftliche Realität: 40% der Ehen werden geschieden, 20% der Kinder leben in einer nichtklassischen Familie. Und schon heute leben gleichgeschlechtliche Paare zusammen und haben teilweise auch Kinder. Mit einem Nein zur Ehe für alle ändert man an dieser Realität nichts.
Sie und der Bundesrat waren zu Beginn gegen den Zugang zur Samenspende für lesbische Ehefrauen und haben schliesslich eingelenkt. Werfen Ihnen die Gegner*innen nun Unbeständigkeit vor? Dem Bundesrat und mir persönlich war es ein zentrales Anliegen, dass das verfassungsmässige Recht jedes Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung gewahrt bleibt. Am Ende hat das Parlament einen Kompromiss gefunden, der dieses Anliegen respektiert. Bei der gesetzlich geregelten Samenspende wird jede Spende beim Bundesamt für Justiz registriert. Sobald das Kind 18-jährig ist, erhält es Einsicht in dieses Register, wenn es das wünscht. Damit bleibt das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstimmung sichergestellt.
«Kinder mit einem Toten – Ehe für alle Nein» steht auf dem neuesten Plakat des Westschweizer Nein-Komitees «Das Kind ist keine Ware». Daneben das Bild einer Zombie-ähnlichen Figur. Ein Politikwissenschaftler spricht von «ganz übler politischen Propaganda» (MANNSCHAFT berichtete).
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