Zu früh kommen kann abtrainiert werden
Die Ursache liegt oft in der Jugend
Ein vorzeitiger Orgasmus ist eine der häufigsten sexuellen Störungen beim Mann. Dafür kann laut Sexualtherapeut Joachim Reich auch ein schamvoller Umgang mit der eigenen Sexualität verantwortlich sein, dessen Ursprung in der Jugend liegt.
Dass religiöse und konservative Kreise die Pornografie als verwerflich und schädlich verurteilen, ist nicht neu. Die stetig wachsende Verfügbarkeit von Hochgeschwindigkeitsinternet und somit von leicht zugänglichen Pornos hat bei vielen Männern zu Problemem geführt und so eine weitere Gegenbewegung entstehen lassen: Die «No Fap»-Community.
Sie fand ihren Ursprung in den USA und hat sich seither in der ganzen Welt verbreitet. Deren Angehörige entsagen einerseits der Selbstbefriedigung («No Fap»), andererseits auch dem Konsum von Pornografie, dem sie eine lange Liste sexueller Störungen zuschreiben. Wer übermässig viel Pornografie konsumiert, behaupten sie, habe Mühe, seine Sexualität mit realen Menschen auszuleben. Dies kann sich etwa in Form von Erektionsstörungen, Berührungsunempfindlichkeiten und einem vorzeitigen Samenerguss äussern.
Vorzeitiger Orgasmus ist verbreitet Doch wann spricht man überhaupt vom zu frühen Kommen? Und wer ist davon betroffen? Zu frühes Kommen beim Sex – in Fachkreisen vorzeitige Ejakulation genannt – gilt als eine der häufigsten Sexualstörungen beim Mann. Ihre genaue Ursache ist bis heute nicht einheitlich geklärt. Gemäss dem Europäischen Urologenverband EAU sind zirka 30 % aller Männer davon betroffen.
Fachleute gehen allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus, da das Eingestehen des vorzeitigen Samenergusses von vielen Betroffenen mit Scham und einer verfehlten Männlichkeit verbunden wird. Von einer vorzeitigen Ejakulation ist die Rede, wenn der Mann noch vor der Penetration oder innerhalb von zwei Minuten den Orgasmus erreicht. Anders als Erektionsstörungen, die oft mit zunehmendem Alter auftreten, kann der vorzeitige Samenerguss junge und ältere Männer gleichermassen betreffen.
«Schnell, schnell» oder die Angst, erwischt zu werden Die Gründe können hormonell bedingt sein. Der chemische Botenstoff Serotonin ist unter anderem für die Verzögerung der Ejakulation verantwortlich. Doch der genaue Zusammenhang zwischen einem Ungleichgewicht im Serotoninhaushalt und einer vorzeitigen Ejakulation ist nicht gründlich erforscht und würde lediglich die lebenslange Form der Sexualstörung erklären.
Bei einer Vielzahl von Männern ist das zu frühe Kommen allerdings ein Problem, das während einer bestimmten Lebensphase auftreten und auch wieder verschwinden kann.
Hier den Konsum von Pornografie als einzigen Übeltäter zu identifizieren, sei jedoch falsch, erklärt Joachim Reich gegenüber der Mannschaft. Gemäss dem Berliner Sexualtherapeuten ist oft ein Wechselspiel von psychischem Stress und der Art der Masturbation die massgebende Ursache für den ungewollt frühen Orgasmus beim Sex. Eine Konditionierung, die bei vielen Männern in der Kindheit und Jugend verwurzelt ist.
«Die ersten Erfahrungen mit der eigenen Sexualität werden natürlich im Verborgenen gemacht», sagt Reich. Dabei stehen manche Jungs zum Beispiel unter Zeitdruck –aus Angst davor, erwischt zu werden. Sei es, weil man Pornoseiten am Familiencomputer im Flur aufruft, ein Zimmer mit einem anderen Familienmitglied teilt oder sei es, weil sich das Badezimmer nicht abschliessen lässt. Die Selbstbefriedigung muss für einen Grossteil der pubertierenden Jungs also möglichst schnell vonstatten gehen.
Augenblickliche Stimulation auf Knopfdruck Diese Konditionierung, so der Sexualtherapeut, begleitet Kinder und Jugendliche oft bis ins Erwachsenenalter. Die Masturbation wird zum schnellen Ritual vor dem Einschlafen, zum Hilfsmittel für den schnellen Druck- und Stressabbau zwischendurch. Dafür brauche man sich nicht einmal mehr viel Zeit zu nehmen. «Heute müssen wir auch nicht mehr auf unsere Fantasien zurückgreifen, wie das jahrhundertelang der Fall war», sagt Reich. «Man geht schnell auf die Toilette, zückt das Smartphone und spielt die gewünschte Simulation in Form von Videoclips oder Bildern auf Knopfdruck ab.»
Es ist in erster Linie also nicht die reine Überstimulierung durch den Porno, die einen beim Partnersex zu früh kommen lässt, sondern die Konditionierung, bei der Selbstbefriedigung möglichst schnell von der Erektion zum Orgasmus zu gelangen.
«Der Sex mit einem Partner kommt in der Regel viel später, vielleicht sogar erst Jahre, nachdem man seine ersten sexuellen Erfahrungen mit der Masturbation gemacht hat», sagt Reich. Hat man sich in der Jugend zeitlich und psychisch unter Druck gesetzt, muss es beim Sex plötzlich anders sein. Man will vermutlich die Zeit zu zweit geniessen und den Sexualakt möglichst lange hinauszögern – für Körper und Gehirn ein Paradox.
Schwule Männer schieben das Problem oft auf Da Frauen oft mehr Zeit als Männer brauchen, um sexuell in Fahrt zu kommen, kann ein vorzeitiger Samenerguss vor allem bei heterosexuellen Paaren schnell zu Spannungen und unschönen Situationen führen. Sind schwule Männer folglich vor diesem Problem gefeit?
Schwule haben die Möglichkeit, dem Problem aus dem Weg zu gehen, indem sie beim Sex die passive Rolle übernehmen.
Keineswegs, meint Reich: «Schwule haben aber immerhin die kreative Möglichkeit, dem Problem des zu frühen Kommens aus dem Weg zu gehen, indem sie beim Sex die passive Rolle übernehmen.» Somit geht man dem Druck aus dem Weg, eine Erektion haben zu müssen und möglichst lange nicht zu kommen. «Als heterosexueller Mann hat man diese Möglichkeiten nicht», sagt Reich.
Selbstverständlich ist nichts falsch daran, diese Strategie zu wählen. Die Wahl der passiven Rolle könne als erste Bewältigungsstrategie sinnvoll sein, meint Reich. Wer eigentlich gerne auch aktiv sein möchte, sollte das Thema des zu frühen Kommens aberangehen.
Training, Training, Training! Die gute Nachricht ist nämlich: Genauso, wie man sich einen möglichst schnellen Orgasmus beim Masturbieren antrainiert hat, so lässt er sich mit Training auch hinauszögern.
Durch die Atmung, Muskelspannung und bestimmte Bewegungen lernt man, seinen Körper in der sexuellen Erregung besser wahrzunehmen. Dabei muss gemäss Reich sowohl dem Leistungsdruck als auch der Angst, als Versager zu gelten, einen Riegel geschoben werden. Dieser Stress könne sich in der Form einer Erektionsstörung oder eben eines frühzeitigen Orgasmus ausdrücken.
«Statt sich nur in zwei Minuten einen runterzuholen, nimmt man sich Zeit dafür, um langsam in Stimmung zu kommen und die Selbstbefriedigung richtig zu geniessen», sagt Reich. «Vielen hilft es, einen Timer auf dem Smartphone einzustellen – zehn Minuten zum Beispiel – und bis dahin durchzuhalten. Man sollte den Versuch, den Orgasmus hinauszuzögern, experimentell und spielerisch angehen, sagt Reich. Eine wichtige Rolle spielt auch die innere Einstellung, zum Beispiel wenn Sexualität und Selbstbefriedigung mit Schamgefühlen und negativen Moralvorstellungen in Verbindungen gebracht werden.
Vielen hilft es, einen Timer auf dem Smartphone einzustellen – zehn Minuten zum Beispiel – und bis dahin durchzuhalten.
Die Überwindung alter Gewohnheiten setzt Willenskraft und Zeit voraus. So ist es unrealistisch, nach wenigen Tagen bereits eine totale Veränderung zu erwarten, wenn der Penis und das Gehirn jahrelang auf einen schnellen Orgasmus getrimmt worden sind.
«Geduld ist übrigens generell keine Tugend, die unter Männern, die aus ihrer Perspektive zu schnell kommen, weit verbreitet ist», sagt Reich. Viele sässen auch schon zwanzig Minuten vor ihrem Termin im Wartezimmer – kommen also «zu früh» – aus Sorge, nicht pünktlich zu sein und dann einen schlechten Eindruck zu machen.
Der Konsum von Pornografie ist keineswegs schädlich, allerdings sollte sich die Selbstbefriedigung nicht ausschliesslich darauf beschränken. Sowohl die eigenen Hände und die Vorstellungskraft als auch unterschiedliche Masturbationstechniken und Sexspielzeuge können dazu dienen, die Selbstbefriedigung länger und abwechslungsreicher zu gestalten.
«Man hat oft das Gefühl, man sei auf gewisse Abläufe festgelegt», sagt Reich. «Dabei können Menschen ihr sexuelles Menü erweitern und ständig neue Erfahrungen machen, sei das nun gemeinsam oder alleine.»
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