Mr. Gay Stephan Bitterlin: «Mein Vater und Bruder sind auch schwul»

Der 41-Jährige setzte sich im Final gegen einen 22- und einen 18-jährigen durch

Stephan Bitterlin ist der neue Mr. Gay Switzerland. (Bild: Raffi P.N. Falchi)
Stephan Bitterlin ist der neue Mr. Gay Switzerland. (Bild: Raffi P.N. Falchi)

Stephan Bitterlin spricht über die Wahl zum Mr. Gay 2011, Homosexualität in der Familie und warum er seinen Traumberuf aufgeben musste.

«Stell deinen linken Fuss auf die Matte, Kathrin. Nicht dass du mir noch wegrutschst!», sagt Stephan Bitterlin, der frisch gewählte Mr Gay 2011. Es ist Montagabend nach der Wahl, und der neue Mister gibt wie gewohnt seine Pilatesstunden im Zürcher Seefeld. Trotz einem bewegten Tag voller Medieninterviews und Fotoshootings lässt sich der 41-jährige Zürcher nicht aus der Ruhe bringen und widmet sich völlig seinen Pilatesschülern. Zusätzlich arbeitet Stephan als Pflegefachmann, Tanzlehrer und Choreograf. Den sportintensiven Lebensinhalt sieht man ihm an. Seine Körper ist duchtrainiert und man schätzt ihn ohne zu zögern zehn Jahre jünger.

Sympatisch ist er, attraktiv und sehr bescheiden. Nach der Wahl gestand er, dass er nicht geglaubt hatte, weiter als in die erste Runde zu gelangen. Die Finalisten verliehen Stephan zusätzlich den Congeniality-Award, der den Teamgeist und die gute Kameradschaft eines Kandidaten auszeichnet. Es war das erste Mal, dass der Sieger der Mr-Gay-Wahl auch noch «Mr. Gay Congeniality» ist.

Die zehn Kandidaten lieferten im voll ausverkauften LaFourmi Théâtre in Luzern eie einmaliges Finale. In drei Modeschauen gaben sie Kleidung von Lacoste, Diesel und McAnzug zum Besten. Die Jury bestand aus Shawne Fielding, Clifford Lilley, Bubennacht-Veranstalter David Merck, HALU-Präsident Markus Vollack und Rutschi Sindico, Präsident der Artist Charity Night. Mannschaft Magazin hat den neuen Mister nach der Wahl getroffen.

Stephan, was ist dir im ersten Moment durch den Kopf gegangen, als du deinen Namen gehört hast? Ich realisierte es gar nicht. Ich hätte wirklich nie gedacht, dass ich es soweit schaffen könnte. Vor allem eben, weil die anderen Kandidaten alle sehr viel jünger waren als ich. Körperlich bin ich zwar noch sehr fit, da habe ich mit den anderen mithalten können. Ein Vorteil war sicher meine Reife und meine Erfahrung. Aber dass ich dann wirklich gewinnen würde, habe ich nicht erwartet. Im Final hast du dich gegen den 22-jährigen Jan und den 18-jährigen Philipp durchgesetzt. Jan Smolders, der Zweiter geworden ist, hat alles super gemacht. Sein Statement am Schluss war sehr souverän und er hatte in Luzern ja auch noch Heimvorteil. Ich dachte, ich werde jetzt Zweiter. Vielleicht ist es wirklich die Reife und die Erfahrung, die es ausgemacht haben. Ich habe aber auch ein grosses Netzwerk und hatte schon im Vorfeld eine grosse Medienpräsenz. Das hat sicher geholfen.

Jurymitglied Shawne Fielding hat dich geliebt. Ich glaube ja. Ich weiss zwar nicht warum (lacht).

Und den Congeniality-Award hast du gleich auch noch abgeräumt. Das hatte ich mir eher gedacht. Unsere Gruppe von Kandidaten war sehr angenehm. Es gab niemals Zickereien, auch bis zum Schluss nicht. Die Kameradschaft war sehr gut und ich hoffe, dass ich mit dem einen oder anderen noch in Kontakt bleiben werde. Mir wird jetzt wohl langweilig am Wochenende! Wir hatten während den Wahlen immer etwas los.

Wie kam es dazu, dass du dich bei den Mr Gay-Wahlen angemeldet hast? Mein Ex-Freund hat vor Jahren an der Wahl teilgenommen. Ich hatte schon lange mit dem Gedanken herumgespielt, bis mich dann ein Freund ermuntert hat, mich anzumelden. Mit meiner Kandidatur würde ich einen Kontrapunkt zu all den Zwanzigjährigen setzen, meinte er. Ja und dann habe ich es halt gemacht. Mit fünfzig wäre es dann schon zu spät gewesen (lacht). Was ist dein Background? Ich bin in Zürich geboren und aufgewachsen. Mit sechzehn Jahren habe ich die Ballettausbildung begonnen und bin ins Ausland gezogen, nach Brüssel und Hamburg. Nach dem Abschluss habe ich ein Jahr für das Theater getanzt, bis ich dann meinen schweren Unfall hatte.

Stephan Bittelrin hält sich mit Pilates fit. (Bild: Raffi P.N. Falchi)
Stephan Bittelrin hält sich mit Pilates fit. (Bild: Raffi P.N. Falchi)

Wie alt warst du? Ich war 21. Aber das ist eben das Berufsrisiko. Das sieht man sehr gut im Film Black Swan, der kürzlich im Kino gelaufen ist. Vor allem für Frauen ist dieser Film fast Realität. Es herrscht eiserne Disziplin. Man trainiert von morgens bis abends und isst dabei fast nichts. Bei den Frauen ist sehr oft Bulimie im Spiel. Ballett ist kein Herumgehopse, sondern man muss eine Hochleistung erbringen wie ein Fussballer oder Leichtathletiker. Von irgendwoher muss also die Kraft kommen. Bei Männern ist die Konkurrenz nicht so schlimm. Sie ist aber da, vor allem wenn man im Ausland ist. Hat dir die Disziplin nach dem Unfall nicht gefehlt? Nach meiner Ausbildung habe ich für das Theater getanzt, da war es ein bisschen anders. Natürlich braucht es Disziplin, doch das Theater bot auch Platz für ein bisschen Leben. In der Ausbildung gab es hingegen keine Zeit für etwas anderes. Als ich dann beim Theater war, hatte ich Freunde und konnte mich etwas ausleben, was andere schon mit vierzehn oder fünfzehn durchmachten. Ein halbes Jahr nach meinem Unfall ist meine Mutter gestorben. Das waren die zwei wichtigsten Dinge in meinem Leben, die plötzlich weg waren. Es war, als hätte man mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich stolz auf das, was ich bisher erreicht habe. Das Leben geht immer weiter, auch wenn es einmal einen Stillstand gibt, aber man sollte sich immer weiter entwickeln und nie aufgeben.

Wie hast du dich in dieser Zeit wieder aufgerappelt? Ich brauchte Zeit für mich selber, um mich neu zu orientieren. Nach einem Praktikum in der Physio habe ich mich dann für die Pflege entschieden, denn der Umgang mit Menschen interessierte mich sehr. Diese Erfahrung hat vor allem meinen Unfall relativiert. Man betreut Menschen, die an Krebs erkrankt sind oder aus einem anderen Grund nicht lange zu leben haben. Trotzdem haben sie Freude am Leben und geniessen jeden Tag, wie er kommt. Was ist dann mein Knie wert? Nichts. Ich kann ja noch leben und habe alles vor mir. Man sieht es im Spital. Ein Kind kommt zur Welt, jemand anderes stirbt. Das ist das Leben und es ist faszinierend. In der Pflege habe ich sehr viel gelernt über mich selber.

Sich um andere Menschen zu kümmern und eiserne Selbstdisziplin sind doch Gegensätze? Gerade deswegen finde ich es so gut. Beim Tanzen bist du nur mit dir selber beschäftigt, mit deinem Körper und deiner Seele. Bei der Pflege kümmerst du dich um jemand anderes. Es ist wirklich wie ein Gegenpol, und das gibt mir sehr viel. Wie sieht dein Alltag aus? In der Pflege bin ich noch 30%, denn das Pilatesstudio läuft wirklich super. Ich mache mich selbständig und bin noch in der Übergangsphase. Zwei Tage in der Woche bin ich im Studio, das Spital ist dann eher unregelässig.

Meine Kandidatur bei Mr Gay habe ich nicht an die grosse Glocke gehängt. Als die Wahlen dann in die Medien gekommen sind, haben es die Leute plötzlich bemerkt und mich darauf angesprochen. Ich habe bis jetzt nur positive Feedbacks bekommen. Vor allem Menschen, von denen ich es nie gedacht hätte, sagten mir, dass sie es eine tolle Sache fänden. Wann war es dir bewusst, dass dir Männer gefallen? Mit zehn oder zwölf Jahren, als mich der männliche Körper immer mehr fasziniert hatte. Eine Frau kann für mich zwar auch sehr erotisch sein, das ist es aber auch schon. Mein Vater ist ja auch schwul, er hatte sein Coming-out, als ich etwa sechzehn Jahre alt war. Ist er dir zuvorgekommen? Ja, das ist er. Aber in meiner Familie ist man immer sehr offen gewesen. Man hat über alles gesprochen und ich hatte nie ein Problem damit. Jeder soll das Leben leben, das ihn glücklich macht. Es ist nicht sehr alltäglich, dass in einer Familie mehr als einer homosexuell ist. Dein Bruder ist ja auch schwul. Ja, mein Vater und mein Bruder waren beide am Finale und mega stolz auf mich. Ob Homosexualität genetisch ist, weiss ich nicht. Ich denke, es gibt schon einen Zusammenhang, meine Familie ist das beste Beispiel dafür. Mein Vater war in dem Sinne kein Vorbild, ich bin stets meinen eigenen Weg gegangen. Es war aber schon cool, denn ich ging mit meinem Vater oft in den Ausgang. Wer kann das schon? Das ist doch super. Mein Vater ist mittlerweile 70 und seit Jahren in einer festen Beziehung. Mit meinem Bruder gehe ich ab und zu aus. Wir haben die Tanzausbildung gemeinsam gemacht, sind aber sonst eher verschieden.

Bist du in einer Beziehung? Ja, seit vier Jahren. Ich glaube, mein Freund hatte zu Beginn etwas Mühe mit meiner Kandidatur und ist jetzt etwas überfordert mit dem ganzen Rummel. Er ist aber ans Finale gekommen und sehr stolz auf mich. Wie habt ihr euch kennen gelernt?

Uii, soll ich das sagen? (denkt nach) Doch das sage ich jetzt: Auf Gayromeo. Das Internet ist zwar eine Plattform, mit der man meistens nur schnellen Sex in Verbindung bringt. Es ist doch etwas Schönes, wenn man sagen kann, dass es auch so geklappt hat. Er war zuerst eine Ferienbekanntschaft in Miami, da er dort studiert hatte. Jetzt führt er sein Studium hier weiter.

Stephan Bitterlin (Bild: Raffi P.N. Falchi)
Stephan Bitterlin (Bild: Raffi P.N. Falchi)

Du bist 41 Jahre alt und siehst blendend aus. Was ist dein Geheimnis? Findest du? (lacht) Mein Vater sieht auch jung aus für sein Alter, ich denke, es ist zum Teil genetisch. Bewegung ist mir sehr wichtig und hält jung. Seit ich elf Jahre alt bin, treibe ich regelmässig Sport. Ein paar Tage ohne, und dann fühle ich mich schlecht. Ich zähle keine Kalorien, esse aber ausgewogen und koche oft zu Hause. Zudem geniesse ich alles mit Mass. Zum Essen ein Glas Wein, aber nicht gleich eine Flasche Wodka. Was heisst es für dich, über vierzig Jahre alt zu sein? Einerseits wird es mir nie langweilig, ich habe noch so viel vor mir. Mein Motto ist, den Tag so zu geniessen wie er kommt und das Beste daraus zu machen. Andererseits hat man bei einer Lebenserwartung von 84 Jahren als Mann schon die Hälfte seines Lebens erreicht, das beschäftigt mich schon. Eine Midlifecrisis habe ich aber deswegen sicherlich nicht, ich will ja auch gar nicht mehr zwanzig sein. Im Chat ist das aber ein Nachteil. Sobald beim Alter eine 4 davorsteht, ist man schon nicht mehr aktuell. Das soll sich aber jetzt ändern, ich bin ja schliesslich Mr Gay geworden.

Was können wir von deinem Amtsjahr als Mr. Gay erwarten? Ich will nicht modeln oder Karriere machen, das habe ich ja schon gemacht. Ich möchte mich wirklich für die Schwulen einsetzen und dort etwas erreichen. Mir ist die Gesundheitsprävention ein grosses Anliegen, und zwar nicht immer nur auf HIV bezogen. HIV wird immer nur mit schwul gleichgesetzt. Es gibt ja noch andere Geschlechtskrankheiten da draussen. Man kann eine schöne Sexualität haben und trotzdem gesund sein. Es muss klar sein, wo man sich informieren und beraten lassen kann. Der Checkpoint Zürich ist zum Beispiel eine super Anlaufstelle gleich beim Bahnhof. Er ist anonym und auch für Heterosexuelle, dass muss auch einmal gesagt werden. Man muss sich regelmässig testen lassen, mindestens einmal im Jahr.

Ein grosses Anliegen ist mir, Leute anzusprechen, Schulen zu besuchen und auch Jugendliche aufzuklären. Nur so lassen sich Klischees und Vorurteile beseitigen.

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