Schatten über Justin Trudeau – Muss der Pro-LGBTIQ-Premier gehen?
Die Konservativen kommen den Umfragen zufolge ebenso auf rund 30 Prozent der Stimmen wie die Liberal Party von Justin Trudeau
In Kanada wird am Montag gewählt. Als politische Lichtgestalt verehrt, wurde Justin Trudeau vor sechs Jahren kanadischer Premierminister. Doch die fetten Jahre mit absoluter Mehrheit sind vorbei. Kurz vor den Neuwahlen geht es hitzig zu – andere macht seine Selbstinszenierung müde. Von Benno Schwinghammer, dpa
Die Stimme aus den Lautsprechern übertönt alles, doch Justin Trudeau tut so, als höre er die Demonstrant*innen nicht. «Du bist nicht unser Premierminister. Du warst es nie und du wirst es nie sein», hallt es bis zum Eingang des Geschichtsmuseums bei Ottawa, in das Trudeau – beschützt von seinen Bodyguards – zur letzten Debatte der Spitzenkandidaten erscheint. Er wollte mit der von ihm ausgerufenen Neuwahl am 20. September nach der absoluten Mehrheit greifen und hoffte auf Rückenwind wegen seiner vergleichsweise erfolgreichen Corona-Politik und der hohen Impfrate.
Trudeau, der einst als erster Premierminister das Cover des internationalen Queer-Magazins Attitude zierte, gilt als wichtiger LGBTIQ-Verbündeter. So entschuldigte er sich im Namen aller Kanadier*innen 2017 in einer emotionalen Rede bei der LGBTIQ-Community für geschehene Diskriminierung. Er tauchte auch immer wieder bei den verschiedenen Pride Parades des Landes auf (MANNSCHAFT berichtete).
Die Umfragen sehen den Liberalen und seine Partei im flächenmässig zweitgrössten Land der Erde denn auch vorne, allerdings in etwa mit dem gleichen Vorsprung an Sitzen vor den Konservativen wie bei der gegenwärtigen Minderheitsregierung. Stattdessen sind nicht nur die rechten Demonstranten vor dem Museum – Teil einer kleinen, aber lauten Minderheit – das Machtspiel und die politische Inszenierung Trudeaus mehr und mehr Leid.
Angesichts einer vierten Corona-Welle fragen sich viele der 38 Millionen Kanadier*innen, ob teure und potenziell gesundheitsgefährdende Neuwahlen wirklich nötig sind – Trudeau lieferte dazu keine klare Antwort und erscheint machthungrig statt dienstbeflissen. Der konservative Spitzenkandidat Erin O’Toole sticht bei der TV-Debatte in die Wunde: «Sie haben damit ihre eigenen politischen Interessen über das Wohlergehen von Tausenden von Menschen gestellt. Führung bedeutet, andere an die erste Stelle zu setzen, nicht sich selbst.»
Analyst David Coletto glaubt, dass Trudeau sich verzockt haben könnte: «Ich denke, es gibt einen inneren Kampf in den Köpfen der Leute, den Premierminister nicht dafür zu belohnen, dass er diese Wahl ausgerufen hat». Peter Donolo, politischer Kommentator und früherer Sprecher vom liberalen Premier Jean Chrétien, sieht das Machtspiel als Symbol: «Das ist eine Art Trudeau in Reinform, es ist wie eine Destillation dessen, was sie an ihm nicht mögen.»
Donolo spielt auf eines der grössten Probleme des Regierungschefs nach sechs Jahren im Amt an: Seine Glaubwürdigkeit und mehr als nur ein Showman mit (zu) perfekt einstudierten Presse-Statements zu sein. 2015 hatte Trudeau den Konservativen Stephen Harper mit einem historischen Sieg aus dem Amt geworfen. Damals versprach Trudeau «sonnige Wege» – mehr Leichtigkeit, Moderne und Jugend. Es mag in der Natur des täglichen Regierungsgeschäfts liegen, dass der Glanz angesichts schmerzhafter Kompromisse und politischer Niederlagen verblasst.
Nicht erwartet hatten Trudeau und auch viele Kanadier aber scheinbar den Hass, der vor allem dem Premier im sonst so beschaulichen Wahlkampf von einigen Rechten entgegenschlug. Sie fordern ein Ende der Corona-Einschränkungen und wehren sich gegen diskutierte Pflichtimpfungen. Die Höhepunkte der lautstarken Proteste markierten der Abbruch einer Veranstaltung Trudeaus sowie ein Angriff mit Kieselsteinen auf den 49-Jährigen.
Rücktritte von Ministerinnen kratzen an seinem Image als selbst ernannter Feminist «Er kandidierte als Kandidat des politischen Generationswechsels, um Politik anders zu machen. Eine Weile glaubten die Leute das, dann stauten sich die Dinge auf und sie glaubten es nicht mehr oder weniger», analysiert der politische Experte David Moscrop die Stimmung über den rechten Rand hinaus. Natürlich gab es Erfolge wie die Legalisierung von Cannabis, doch einige vollmundige Versprechen wie eine Wahlrechtsreform konnte Trudeau nicht halten, zudem kratzen Skandale und Rücktritte von Ministerinnen an seinem Image als selbst ernannter Feminist.
«Er ist in dem Sinne falsch, dass er versucht, einen Progressivismus zu verkaufen, der nicht immer aufgeht», erklärt Moscrop. Und auch in den Wahlkampf starteten die Liberalen holprig und hatten Probleme, die für Kanadier grössten Themen der Zukunft – die steigenden Lebenshaltungskosten, Gesundheitsversorgung oder die Klimakrise – angemessen zu adressieren. Bei der TV-Debatte geriet Trudeau dementsprechend unter Druck und wirkte nicht immer souverän.
O’Toole erwähnt bei jeder Gelegenheit, dass er ein Unterstützer der LGBTIQ-Gemeinde ist.
Auf der Bühne punktete – neben der chancenlosen Grünen-Vorsitzenden Annamie Paul – eher der Konservative O’Toole, der den moderaten Kanadiern mit einer Politik der Mitte entgegenkommen will und durch seine «Harmlosigkeit» überzeugt, wie Kommentator Donolo sagt. So erwähnt O’Toole bei jeder Gelegenheit, dass er ein Unterstützer der LGBTIQ-Gemeinde und kein Abtreibungsgegner sei. Auch Jagmeet Singh, Chef der eher linken Neuen Demokraten, ist beliebt und kann bei den Debatten überzeugen.
Das Problem ist nur, dass viele Kanadier*innen durch das Wahlsystem davor zurückschrecken dürften, Singh zu wählen. In 338 Wahlkreisen kommt jeweils nur die Kandidatin oder der Kandidat ins Parlament, der die meisten Stimmen hat. Es gibt nur einige Dutzend umkämpfte und damit wahlentscheidende Bezirke vor allem im Umland der Grossstädte Toronto, Montreal und Vancouver – vergleichbar mit den amerikanischen Swing-States. Das System kommt Trudeau zupasse: Mit etwa 35 Prozent der Stimmen könnte er eine absolute Mehrheit der Sitze erreichen.
Eine Wiederholung der fetten ersten vier Jahre mit absoluter Mehrheit sieht Peter Donolo für Trudeau aber bislang nicht. Dafür wögen auch die kürzlich entdeckten Überreste von mehr als 1000 Menschen der indigenen Bevölkerung in der Nähe früherer Umerziehungsanstalten zu schwer. Trudeau, der persönlich nichts für die lange zurückliegenden Verbrechen gegen die kanadischen Ureinwohner kann, entschuldigte sich und liess fortan alle Fahnen an öffentlichen Gebäuden auf halbmast wehen. «Ich sehe immer wieder diesen Kontrast zwischen der Wahl der ’sonnigen Wege‘ und einer Halbmast-Wahl», resümiert Donolo.
Kanadas Premier Justin Trudeau hat die Wahl für den 20. September ausgerufen, weil er aus seiner Minderheitsregierung eine Führung mit absoluter Mehrheit im Parlament machen will. Zwischen Trudeau und seinem Hauptkontrahenten O’Toole zeichnet sich ein knappes Rennen ab. Obwohl O’Toole in einigen Umfragen bei den absoluten Stimmen vorne liegt, sehen die meisten Demoskopen Trudeaus Liberale bei den Sitzen im Parlament vorne. Grund dafür sind die 338 Wahlbezirke, deren Mandate nach dem Prinzip der absoluten Mehrheit verteilt werden. Entscheidend sind deshalb lediglich einige Dutzend umkämpfte Bezirke – ein wenig vergleichbar mit den «Swing States» in den USA.
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