Sexuelle Abstinenz als neuer Trend?
Stichwort «No Nut November»
Nach Speed-Dating, Online-Swiping und Situationships zeichnet sich in der Dating-Szene fast eine Gegenbewegung ab: Verzicht auf Männer, Frauen, Beziehungen und Sex. Aber bringt Abstinenz etwas?
Spoiler: Richtig neu ist Sexfasten nicht.
Durch Verzicht zum Sieg gelangen? Im Internet wimmelt es von Trends und Challenges, die dazu aufrufen, etwas aufzugeben, um ein besseres Ich zu werden. Der Januar scheint dafür besonders geeignet zu sein: Mit Alkoholverzicht oder veganer Ernährung soll die Völlerei des Dezembers beendet werden. Im November wollen sich vor allem jüngere Generationen von etwas trennen: vom Sex. Ist zölibatär leben ein neuer Trend?
Seit etwa 2017 kursiert der sogenannte No Nut November (NNN), abgeleitet von einem umgangssprachlichen amerikanischen Ausdruck fürs Ejakulieren (to bust a nut = abspritzen). Bei dieser Challenge sollen Teilnehmer einen Monat lang auf Selbstbefriedigung und - je nach Sichtweise - überhaupt auf Sex verzichten.
Diese Challenge sei für viele leicht zu belächeln, sagt Maurice Merkert, ein selbst ernannter «Mentor für Männer». Seit Jahren nehmen er und seine Internet-Follower, die ihm zufolge bunt gemischt sind, am NNN teil. «Man kann nicht sagen, dass es nur Jugendliche oder Studenten sind, sondern eigentlich sind es alle Männer, die irgendwie merken, da stimmt irgendwas nicht.»
«Die eigene sexuelle Energie mit dem eigenen Herzen verbinden und entspannen.»
Mentor Maurice Merkert
Männer werden im Internet mit viel Pornografie und sexuellem Content konfrontiert, wie Merkert sagt. Die Challenge, bei der man auf Online-Reize verzichte, solle helfen, neue Gewohnheiten zu entwickeln. «Es geht darum, die eigene sexuelle Energie mit dem eigenen Herzen zu verbinden und zu lernen, den Körper auf andere Weise als durch Befriedigung zu entspannen.» Diese Entspannung könne durch Sport oder Yoga erreicht werden. Ziel sei es, wieder bewusster mit Sex und Partnerschaft umzugehen, betont Merkert.
Etwas neuer ist die Challenge «Boy Sober» - übersetzt also etwa «nüchtern von Jungs sein». Dabei verzichten heterosexuelle Frauen und wohl auch der eine oder andere queere Mann auf einen Beziehungs- oder Sexualpartner. Ziel ist es, mit sich selbst zufrieden zu werden, anstatt sich im Dating zu verlieren. Mit anderen Worten: ein Entzug vom Dating.
Handelt es sich beim Dating für Männer oft um eine Art sexuelle Bestätigung, so sind Frauen eher an einer gewissen Unabhängigkeit interessiert, wie die Soziologin Marina Thomas feststellt. «Sie wollen nicht mehr so emotional mit Männern beschäftigt sein.»
Traditionelle Beziehungen seien emotional anstrengend und Frauen leisteten gesellschaftsbedingt mehr Care-Arbeit, sagt Thomas, die an der Universität Wien unter anderem zu Online-Dating-Trends forscht. «Ich kann mir gut vorstellen, dass #boysober auch zu einer Befreiung von dieser Ablenkung führt. Man beschäftigt sich nicht mehr mit den Problemen der anderen, sondern konzentriert sich wieder auf sich selbst als Frau.»
Ob «friends with benefits», also Freundschaften, in denen auch Sex möglich ist, oder «situationships», eine beziehungsähnliche Situation ohne viel Verbindlichkeit: Jüngere bildeten neue Beziehungsformen, um in der Dating-Welt klarzukommen, sagt Thomas. «Sie wollen nicht mehr die alten Beziehungsmuster mit patriarchalen Geschlechterrollen. Bindung wird mit Ängsten und Zwängen assoziiert - Bindungslosigkeit mit Freiheit», sagt sie.
Doch #Boysober zeigt, dass auch diese neuen Beziehungsformen für viele nicht befriedigend sind. Es gebe aber Parallelen zum NNN. «Sexuelle Abstinenz hat plötzlich einen Wert, weil auf einmal sehen wir was historisch Neues: Die potenzielle Gefahr von Sex im Überfluss.» Wenn etwas im Überfluss vorhanden ist, wird es weniger geschätzt.
Diese Herausforderungen mögen dem Namen nach neu sein, aber sie sind es eigentlich nicht, wie Sexualmediziner Jörg Signerski-Krieger erklärt. «Abstinenzphasen gab es immer wieder. Auch wenn man an die Fastenzeiten denkt, gab es implizit auch Sexfasten», sagt er.
Die Frage ist, ob solche Abstinenz-Challenges eine Wirkung haben. «Ich glaube nicht, dass der Verzicht auf Sex nur um des Verzichts willen einen Effekt hat», betont Signerski-Krieger, der unter anderem auch bei der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung Dozent ist. Es gehe vielmehr darum, solche Challenges mit einem bestimmten Ziel zu verfolgen.
Medizinisch habe der Sexverzicht kaum einen Nutzen. «Sex ist an sich gesund - man baut Cortisol ab, wodurch der Stresslevel sinkt, es werden Glückshormone ausgeschüttet und es ist auch eine sportliche Aktivität.» Ein Vorteil des Verzichts könne der Rückgang von sexuell übertragbaren Krankheiten sein – «aber dafür gibt es auch andere Methoden, man muss nicht auf Sex verzichten».
Jedoch wird besonders der No Nut November in Milieus propagiert, die rechtskonservativ oder gar frauenfeindlich sind. «Zum Teil kommen diese Challenges aus dem konservativen, evangelikalen Bereich», sagt Sexualmediziner Signerski-Krieger. Eine Hypothese sei dann, dass Sexualität eine Konkurrenz zur Religionspraxis sei.
«Nur wenn man sexuell selbstbestimmt ist, kann man auch über die sexuellen, moralischen und konservativen Aspekte nachdenken, die dahinterstehen können.»
Sexualmediziner Jörg Signerski-Krieger
Verzicht auf Sex kommt in vielen Religionen als Regel oder vorübergehende Vorgabe vor. «Ich würde es aber nicht mit dem Zölibat vergleichen, denn das ist religiös begründet und hat einen ganz anderen Hintergrund», sagt Soziologin Thomas. Mit Zölibat wird die Ehelosigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit insbesondere von Geistlichen in der römisch-katholischen Kirche bezeichnet. Thomas sieht aber das Potenzial, dass die November-Challenge instrumentalisiert werden könne. Junge Männer seien dafür besonders anfällig.
Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, betont Signerski-Krieger, sei es wichtig, junge Menschen über sexuelle Gesundheit aufzuklären und sie zu sexueller Selbstbestimmung zu führen. «Nur wenn man sexuell selbstbestimmt ist, kann man auch über die sexuellen, moralischen und konservativen Aspekte, die dahinterstehen können, nachdenken und man kann sich auf dieser Basis entscheiden, solche Challenges anzugehen oder abzulehnen.»
Text: Sabina Crisan, dpa
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