100 Tage Schutz vor Hass – und die Meinungsfreiheit lebt noch!
Die Community musste von der Anti-Rassismusstrafnorm noch nicht Gebrauch machen.
Seit 1. Juli gilt in der Schweiz die Erweiterung der Anti-Rassismusstrafnorm (MANNSCHAFT berichtete). Zum Einsatz kam das erweiterte Gesetz in diesen 100 Tagen noch nicht. Im Abstimmungskampf warnten die Gegner*innen vor dem Tod der Meinungsfreiheit. Nun, da die Meinungsfreiheit weiterhin quicklebendig ist, sagen sie: Schwule und Lesben brauchen diesen Schutz nicht.
Bereits Schwulenwitze am Stammtisch könnten eine Anzeige zur Folge haben, eine «kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität» wäre nicht mehr möglich! Diese Prognose formulierte der damalige EDU-Präsident Hans Moser für das Stimmvolk. Im Kampf gegen die Erweiterung der Anti-Rassismusstrafnorm und den Schutz vor Hass ignorierten die Gegner*innen, dass es beim Gesetz um einen Schutz vor extremer Hetze und Gewalt geht.
Seltsamer Impfzwang-Vergleich Mittlerweile gilt die Erweiterung der Anti-Rassismusstrafnorm seit genau 100 Tagen. MANNSCHAFT wollte von den Gegner*innen wissen, wo denn nun das Ende der Meinungsfreiheit sei, von dem viele von ihnen sprachen. Denn bisher ist kein einziger entsprechender Rechtsfall bekannt. Hat also niemand mehr in der Schweiz einen Schwulenwitz erzählt seit dem ersten Juli?
Wussten Gegner*innen wie der frühere EDU-Parteichef Hans Moser, dass die Zukunft nicht so aussah, wie er sie prognostizierte? War die Angstmacherei also nur ein Mittel, um Schwulen und Lesben so wenige Rechte wie möglich zu geben? «Mit keinem Wort habe ich mich, oder haben wir uns im Referendumskomitee je gegen Schwule und Lesben gewendet. Nie sprachen wir von einer Einschränkung ihrer Rechte. Diese Verdrehung machten die Medien», sagt Moser auf Anfrage von MANNSCHAFT. Und weiter: «Nur mit dieser falschen Darstellung der Vorlage wurde die Abstimmung gewonnen.»
Moser traut der Ruhe nach der Einführung der Erweiterung noch nicht – und zieht eine eigenwillige Parallele: «Ob Verfahren laufen oder noch keine neuen Anzeigen erstattet wurden, die Rassismusstrafnorm wurde erweitert. Beim Pandemiegesetz beispielsweise, das von der EDU bekämpft und im September 2013 vom Volk gutgeheissen wurde, sind nun sieben Jahre vergangen und die damals gestellte Prognose trifft ein. Gegen den Impfzwang muss gekämpft werden sonst wird wohl auf Grund dieser falschen Gesetzesgrundlage weiter über das Volk im Ausnahmeverfahren entscheiden und womöglich Zwangsimpfungen durchgeführt.»
Keine Antwort von «Zukunft Schweiz» Auch Zukunft Schweiz bekämpfte den Schutz vor Hass. Die Organisation gab ein – vermutlich nicht ganz billiges – Rechtsgutachten in Auftrag. Sie wollte damit zeigen, wie wenig es künftig für eine Anzeige brauchen würde. Die Erweiterung würde «Tür und Tor öffnen für mitunter willkürliche Anschuldigungen und Anklagen», schrieb Zukunft Schweiz.
Doch das Gutachten war ein Eigentor (MANNSCHAFT berichtete), die Prognosen wurden darin nicht bestätigt. Die Organisation veröffentlichte das Dokument im eher kleinen Rahmen auf ihrer Website unmittelbar vor der Abstimmung. Auch von Zukunft Schweiz wollte MANNSCHAFT wissen, ob man nun zugeben muss, sich in der Einschätzung getäuscht zu haben. Leider haben wir bisher keine Antwort erhalten.
«Es hapert noch an der Umsetzung» «Wir haben immer gesagt, dass solche Prognosen komplett übertrieben sind», sagt Roman Heggli, Geschäftsführer von Pink Cross. «Und offensichtlich hatten wir recht. Die gleiche Diskussion gab es ja auch in den 90er-Jahren bei der Einführung der ursprünglichen Anti-Rassismusstrafnorm.» Man müsse allerdings noch festhalten, dass Hass nie eine Meinung sei, sondern einfach nur Hass.
Roman Heggli selbst ist von Anfang an davon ausgegangen, dass es nur sehr wenige Anzeigen geben werde. «Einerseits sind öffentliche Aufrufe zu Hass zum Glück nicht an der Tagesordnung, andererseits hapert es aber auch noch an der Umsetzung», erklärt Heggli. Bisher sei noch niemand von der Verwaltung auf Pink Cross zugekommen, um zu besprechen, wie die Strafnorm umgesetzt werden soll.
«So gibt es beispielsweise eine Eidgenössische Rassismuskommission und eine entsprechende Fachstelle, die sich mit der Umsetzung der Anti-Rassismusstrafnorm befassen. Etwas Vergleichbares für Hass gegen LGBTI-Personen fehlt aber noch. In den nächsten Monaten werden wir aber aktiv auf die Verwaltung zugehen und hoffen auf eine gute Lösung», sagt Heggli.
«Nichts gewonnen» mit Schutz vor Hass Hans Moser zieht eine ganz andere Zwischenbilanz als Pink Cross: «Sicher haben Schwule und Lesben mit dieser Erweiterung nichts gewonnen und hätten bei einer Ablehnung der Gesetzeserweiterung auch nichts verloren», findet der frühere EDU-Präsident.
Entsprechend könnte man allerdings auch sagen, dass der Seiltänzer mit dem Fangnetz nichts gewonnen habe. Die Schwulen und Lesben in der Schweiz sind froh, sollten sie die Erweiterung nicht brauchen – und froh darum, sollten sie sie mal brauchen.
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