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Was bei HIV geklappt hat, sollte auch bei Corona funktionieren

Der diesjährige Welt-AIDS-Tag wird in einer Kakophonie aus Corona-Leugnung und Demokratieverachtung untergehen, fürchtet unser Autor

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Foto: Edwin Hooper/Unsplash

HIV ist der Beweis dafür, dass man eine Epidemie oder Pandemie erfolgreich bekämpfen kann – auch wenn kein Heilmittel und kein Impfstoff zur Verfügung steht. Aber es gibt eine erfolgreiche Therapie, den Zusammenhalt der Betroffenen und: Solidarität. Das sollte doch auch bei Covid-19 klappen. Bei HIV leben wir es vor. Ein Gastbeitrag* von Matthias Gerschwitz zum bevorstehenden Welt-AIDS-Tag.

2020 ist das erste Jahr, in dem ich mir wegen HIV albern vorkomme. Nicht, weil ich HIV albern fände, sondern weil es derzeit andere Probleme zu lösen gilt. Was HIV betrifft, werde ich nicht müde, in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen die Geschichte der Infektion und meinen mittlerweile mehr als 28-jährigen Umgang mit der Immunschwäche zu erzählen, um den Jugendlichen mögliche Risiken und Nebenwirkungen der Sexualität, aber auch die ungemeinen Fortschritte in den letzten 25 Jahren begreiflich zu machen. Um ihnen die Freude an der Entdeckung der eigenen Sexualität nicht von der irrationalen Angst vor sexuell übertragbaren Krankheiten nehmen zu lassen. Und – ganz eigennützig – um uns, den HIV-positiven Menschen, eine weitere Generation von nicht aufgeklärten, unwissenden und vorurteilsbelasteten Mitmenschen zu ersparen.

Denn wenn man aktuell in HIV-Foren schaut, finden sich dort 18- bis 30-jährige Menschen, die Fragen, Sorgen und Ängste haben, die ich aus den achtziger Jahren kenne und die Mitte der Neunziger eigentlich geklärt waren. Aber sie sind plötzlich wieder da, so als hätte es die antiretrovirale Therapie (seit 1996), das EKAF-Statement (2008) oder die unzähligen Aktivitäten von AIDS-Hilfen und Einzelpersonen und ihre Bemühungen bei der Aufklärung, was HIV heute ist – und vor allem: was es nicht (mehr) ist – nie gegeben.

Zur Erinnerung: Wir leben im Jahr 2020 und haben mittlerweile drei Möglichkeiten, HIV vorzubeugen: das Kondom, die antiretrovirale Therapie und die PrEP (Präexpositionsprophylaxe). Bei diesen Wahlmöglichkeiten dürfte für jeden etwas dabei sein. Chacun à son goût. Und: In Deutschland leben 0,12% der Bevölkerung mit HIV oder sind an AIDS erkrankt. Davon nutzen mittlerweile fast 90% erfolgreich die antiretrovirale Therapie, um das Virus nicht mehr weitergeben zu können (wie gut das funktioniert, ist allerdings immer noch zu wenig bekannt – MANNSCHAFT berichtete). Um zu verhindern, dass das Virus im eigenen Körper Schaden anrichtet.


Mein HIV-Test ist positiv – was jetzt?

Bei allen Errungenschaften: Der Welt-AIDS-Tag 2020 wird, so fürchte ich, untergehen in einer Kakophonie aus Corona-Leugnung und Demokratieverachtung. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von HIV, ohnehin auf diesen einen Tag beschränkt, wird wieder einmal leiden. Denn eine kleine Gruppe von Menschen, die sich auf die Fahne geschrieben hat, vollkommen empathiebefreit und stur-egoistisch die eigenen Ziele durchzusetzen, bestimmt derzeit den Diskurs oder glaubt das zumindest. Corona auf allen Kanälen. Die Mund-Nasen-Bedeckung sei ein «Maulkorb» und würde die freie Meinungsäusserung verhindern, skandieren sie. Dabei widersprechen sie sich in jedem Satz selbst. Bewusst?

Ich ertappe mich gelegentlich dabei, mir wirklich die Diktatur zu ersehnen, von der sie beständig faseln – nur, damit das aufhört. Dass ich den Gedanken sofort wieder verwerfe, muss ich wohl nicht extra betonen – zu viel liegt mir an der Demokratie. Ich kenne nichts anderes. Ich will nichts anderes. Denn nur die Demokratie bietet die Freiheit, die ich will.

Beamen wir uns zurück in die 80er Jahre: Man stelle sich vor, Menschen wären damals auf die Strasse gegangen, um gegen die Verwendung eines Kondoms zu demonstrieren. Es gab zwar keine Kondompflicht wie heute bei der Mund-Nasen-Bedeckung – aber ich bin sicher, dass dieselben Menschen, die sich heute durch die Maske (angeblich) ihrer Freiheit beraubt sehen, wütend gegen diese Demonstranten vorgegangen wären. Sie hätten sich bedroht gefühlt, weil HIV im Raum stand und die Ablehnung des Kondoms ihre Freiheit gefährdet hätte. Und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, mit den damaligen Kondomgegner*innen sexuell zu verkehren, stark gegen Null strebte. Aber hätte man sie überhaupt wahrgenommen? Die grosse Mehrheit ignorierte HIV über lange Zeit, weil sie glaubte, von der Infektion nicht betroffen zu sein. Wen kümmerte es also, wenn in irgendwelchen Randgruppen Todesfälle auftraten?


Wen kümmern eigentlich die Todesfälle bei Corona? »Ich kenne keinen, der es hat«, heisst es, wenn man die Tatsache oder die Risiken anzweifeln will. Ich kenne leider (mindestens) einen, der an den Folgen verstorben ist. »An den Folgen!«, höhnen die Corona-Leugner*innen, weil es für sie wichtig ist, ob man an, mit oder durch das Virus stirbt. Als mache das einen Unterschied! Fragt man bei Verkehrstoten, mit welchem Fuss der Mensch die Strasse betreten hat, ob der Unfall in einem VW oder Renault passierte oder welche Farbe der Strassenbelag hatte? Auch HIV fordert immer noch Opfer. Pro Jahr versterben weltweit um die 700.000 Menschen an den Folgen. In einem Land mehr, in einem anderen Land weniger. Niemand stellt die Frage »an, mit oder durch«, denn tatsächlich ist keiner der mittlerweile weit über 30 Millionen Toten an HIV oder AIDS gestorben. Die Viren öffnen die Türen für andere Krankheiten, die das Leben bedrohen. Eine davon könnte Corona sein. Da hat es 2020 weltweit bereits doppelt so viele Todesfälle gegeben wie bei HIV. Und HIV macht Angst? (Die Corona-Pandemie könnte im Kampf gegen HIV einen Rückschlag und viele zusätzliche Todesfällen bedeuten, warnte jetzt UNAIDS – MANNSCHAFT berichtete).

Dabei braucht es bei Covid-19 weder Sperma, Blut noch eine andere infektiöse Körperflüssigkeit, um Viren zu übertragen. Es kommt auch nicht auf die sexuelle Orientierung oder einen anderen Diskriminierungsgrund an. Es genügt, zu atmen. Vor allem: einzuatmen. Egal, ob es eine Vorerkrankung gibt. Die Verantwortlichen in Bund und Ländern versuchen, mit vielerlei Massnahmen die Übertragungsrisiken und Übertragungsraten zu minimieren. Man kann trefflich über die Wirkung und die Auswirkungen dieser Massnahmen streiten. Man muss das sogar! Man kann die Mund-Nasen-Bedeckung schrecklich finden. Man soll das sogar! Man darf demonstrieren und alle Mittel des Rechtsstaates ausschöpfen. Aber was sind die konstruktiven Alternativen?

Die Alternative bei den sogenannten »Querdenkern« ist destruktiv und heisst grundsätzlich: »Nein! Wir wollen das nicht!« Was wollen sie dann? Die Art und Weise der Demonstrationen, die Wahl von Worten und Mitteln, die Heftigkeit in der Auseinandersetzung bis hin zur Missachtung demokratischer Institutionen, die steten ebenso unpassenden wir unglaublichen Vergleiche mit Persönlichkeiten der Geschichte lassen vermuten, dass «die Regierung» qua diktatorischem Dekret ein allgemeines Atemverbot ausgesprochen habe, gegen das es zu kämpfen gelte. Ist das so?

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Es fällt auf, wie wenig das Krakeelen mit der Sache selbst zu tun hat. Die Begründungen werden aus allen Ecken geholt – je weiter, je besser. Zum Beispiel mit dem Verweis auf die geringe Infektionsrate. Gerade mal ein Prozent der getesteten Bevölkerung seien betroffen, heisst es. Warum also etwas dagegen unternehmen? «Ein bisschen Schwund ist immer», schiesst es einem durch den Kopf. Ein Prozent? Das ist acht Mal mehr als bei HIV. Und HIV macht Angst?

2020 ist das erste Jahr, in dem ich mir wegen HIV albern vorkomme. Nicht, weil ich HIV albern fände. Sondern, weil es andere Probleme zu lösen gilt. Probleme, die mit einfachen Mitteln vermindert oder sogar verhindert werden können. Mit Intelligenz, mit Rücksicht, mit Solidarität. Und mit einer Mund-Nasen-Bedeckung – so wie damals das Kondom als einziger Schutz galt, bevor die antiretrovirale Therapie ihren Siegeszug feiern konnte. HIV der Beweis dafür, dass man eine Epidemie oder Pandemie erfolgreich bekämpfen kann, auch wenn es kein Heilmittel und keinen Impfstoff gibt. Aber eine erfolgreiche Therapie. Und den Zusammenhalt der Betroffenen. Und Solidarität. Das sollte doch auch bei Covid-19 klappen. Bei HIV leben wir es vor.

Mein persönliches WAT-Motto lautet daher – unabhängig von allen Viren dieser Welt: «Es geht. In jeder Beziehung. Gemeinsam. Wenn man nur will.»

*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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