«Stolpersteine» für die Opfer der Nazis: Gunter Demnig wird 75

Auch der wegen §175 verfolgten homosexuellen Männer wird gedacht

Gunter Demnig beim Verlegen von Stolpersteinen (Archivfoto: Axel Heimken / dpa)
Gunter Demnig beim Verlegen von Stolpersteinen (Archivfoto: Axel Heimken / dpa)

Gunter Demnig macht schon seit Ende der 1960er Jahre Kunst. Dann kam das Projekt «Stolpersteine» zur Erinnerung an Opfer der NS-Diktatur, auch homosexuelle Opfer des Nazi-Terrors. Es wurde sein Lebenswerk.

Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Als Gunter Demnig im Mai 1990 mit einer Kunstaktion in der Kölner Südstadt an die NS-Deportationen von Sinti und Roma 1940 erinnerte, kam eine ältere Dame auf ihn zu. «Ja guter Mann», sagte sie, «was Sie hier machen auf der Strasse, ist ja ganz schön.» Aber bei ihnen im Viertel hätten doch niemals Sinti und Roma gelebt. Demnig zeigte ihr historische Belege. «Der Frau ist wirklich das Kinn runtergefallen», erinnert sich Demnig. «Das war eigentlich der Auslöser.»

Seit nun mehr als 30 Jahren widmet sich der in Berlin geborene Künstler der Erinnerung an jene, die einmal einfach Nachbar*innen waren und eines Tages verschwanden – vertrieben, verschleppt, ermordet von rassistischen Fanatikern des NS-Regimes.

Erster Stolperstein 1992 Am 16. Dezember 1992 legte Demnig in Köln seinen ersten «Stolperstein». Inzwischen liegen in Deutschland und vielen anderen Ländern 96.000 dieser kleinen, mit Metall beschlagenen Quader vor Häusern, wo die Opfer einst wohnten. Demnig wird am Donnerstag (27.10.) 75 Jahre alt. Aber ans Aufhören denkt er nicht. Im Juni 2023 will er den 100.000. Stolperstein setzen.

Der Künstler Gunter Demnig (Foto: Peter Kneffel/dpa)
Der Künstler Gunter Demnig (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Die Steine mit dem Geburtsdatum, dem Deportationsjahr und dem mutmasslichen Schicksal der Menschen bringen Passant*innen vielerorts zum Innehalten, auf Gehwegen in Berlin und anderen Grossstädten liegen sie zu Dutzenden – ein Stolperstein je Opfer. Demnig sagt, er bekomme immer mehr Anfragen aus aller Welt, von Angehörigen, die sich für ihre in der Shoa ermordeten Eltern oder Grosseltern zumindest dieses kleine Memento in Deutschland wünschten und Trost darin fänden. Im Fall vom schwulen Opfern sind es heute oft Nichten und Grossneffen, die sich an Demning wenden (MANNSCHAFT berichtete).

Widerstände und Kritik Doch gab es auch immer wieder Kritik. Demnig selbst erzählt von Widerständen von Stadträt*innen, Dezernent*innen und Immobilienbesitzer*innen, die um den Wert ihrer Häuser fürchteten. Von Rechten bekam er Morddrohungen, 800 Steine wurden über die Jahre zerstört. Doch die entschiedenste Ablehnung kam von der früheren Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch.

2014 sagte Knobloch im Münchner Stadtrat: «Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Menschen, auf die man schon auf dem Boden liegend immer weiter eintrat und die mit schweren ledernen, stahlbekappten Stiefeln in die Transporter getreten wurden. Menschen, auf dem Boden kauernd, verletzt, sterbend oder bereits tot, wie in den Konzentrationslagern üblich. All das hat man vor Augen, als wäre es gestern erst geschehen. Diese Erinnerung begründet meine unbeirrbare Abwehrhaltung gegenüber jeder Gedenkform auf dem Boden – speziell gegenüber den ‹Stolpersteinen›.»

Die Stadt München entschied sich gegen diese Art der Erinnerung.

Stolperstein in Chemnitz für ein LGBTIQ-Opfer der Nazis (Foto: LSVD)
Stolperstein in Chemnitz für ein LGBTIQ-Opfer der Nazis (Foto: LSVD)

«Es sind keine Grabsteine» Demnig hat Gegenargumente. Vor der Verlegung des ersten Steins habe er einen Kölner Rabbi um Rat gebeten, und der habe keine Einwände gehabt, sagt der Künstler. «Es sind keine Grabsteine.» Auch der heutige Zentralratspräsident Josef Schuster steht hinter dem Projekt. Man halte «die Stolpersteine für eine sehr gute und würdige Art des Gedenkens an die Opfer der Schoa», schreibt der Zentralrat auf seiner Webseite. «Durch die Stolpersteine kommen die Menschen im Alltag mit dem Thema für sie überraschend und unvorhergesehen in Berührung.»

Die Nachkommen von Fritz Paul Bräuer und Gustav Herzberg in Berlin (Foto: Gesprächskreis Homosexualität)
Die Nachkommen der schwulen Männer Fritz Paul Bräuer und Gustav Herzberg in Berlin bei der Stolpersteinverlegung (Foto: Gesprächskreis Homosexualität)

Demnig selbst wirkt wie ein Mann, der mit sich im Reinen ist. Beim Online-Interview trägt er, wie auf fast allen Fotos, seinen Filzhut. Zwischendurch stolziert eine Katze über seinen Schreibtisch im heimischen Alsfeld-Elbenrod, einem Dorf zwischen Frankfurt und Kassel. Die Katze schmeisst eine Tasse um. Demnig lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Der Mann, der 1967 in Berlin ein Kunststudium begann und später nach Kassel und Köln zog, erzählt von «Verlegetouren» von Ort zu Ort, geplant und vorbereitet von einem Team von inzwischen elf Leuten. Seine Frau Katja betreut die Datenbank, eine Mitarbeiterin prüft die von Antragstellern gelieferten Fakten. Dass ausgerechnet bei einer Verlegeaktion für das Auswärtige Amt 2021 drei mögliche NS-Sympathisanten geehrt wurden, ärgert Demnig. Da habe er sich ausnahmsweise auf Recherchen der Behörde verlassen. «Wenn Fehler passieren, werden die Fehler korrigiert», sagt er. Eindeutig geklärt ist das noch nicht.

Vorwurf der Geldmacherei Demnig lässt auch Vorwürfe der Geldmacherei nicht gelten. 120 Euro kostet die Verlegung eines Stolpersteins in Deutschland, 132 Euro im Ausland. Einmal hatte er Ärger mit dem Finanzamt, das in dem Projekt keine Kunst zu erkennen vermochte. Der zuständige Landesfinanzminister habe ihn «rausgepaukt», sagt Demnig.

Die Kunst in seinem Werk, das sei nicht jeder einzelne Stein. Es handele sich im Sinne von Josef Beuys um eine «Soziale Skulptur» – das physische Objekt verbunden mit dem Zusammentreffen der beteiligten Menschen.

Vor allem, dass er Jugendliche erreicht (MANNSCHAFT berichtete), ist Antrieb für den Künstler, der selbst im Geschichtsunterricht und von seinem aus dem Krieg zurückgekehrten Vater wenig zur NS-Zeit erfuhr. Man habe ihn anfangs gewarnt vor Desinteresse der jungen Leute, er aber erlebe das Gegenteil. Geschichte werde für Schüler*innen durch die Einzelschicksale plötzlich greifbar und nah. Einige starten Recherchen über Verschleppte aus ihren Orten und sammeln Spenden. «Da weiss man einfach, warum man es macht», sagt Demnig.

 

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