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«Selamlik» – Das Leben eines schwulen Geflüchteten

Zwischen queerem Erwachen, kriegerischer Gewalt, Flucht und Selbstfindung

Selamlik Buch
Bild: Albino Verlag/khaledalesmael.com

Khaled Alesmael erzählt in diesem autofiktionalen Roman von Trauma, Homophobie und anderen Erlebnissen eines queeren Flüchtlings. «Selamlik» ist schnörkellos und direkt. Stefan Hölscher hat das Buch für uns gelesen.

Der erste Absatz
«Aleppo, das Haus meiner Schwester. Ich stand mitten in ihrem Schlafzimmer, das in mildem Halbschatten lag. Die klapprigen Fensterläden waren geschlossen, um die Nachmittagshitze abzuwehren, doch sie hatte die Fenster geöffnet, und eine warme Brise wehte sanft herein. Der Wind blähte die durchsichtigen Vorhänge, bevor er meinen nackten Körper streifte.»

Das Genre
Autofiktiver schwuler Flüchtlingsroman.

Die Handlung
«Selamlik» erzählt die Geschichte von Furat, die über weite Teile eng verwoben ist mit der Autobiographie des schwulen Autors Khaled Alesmael, der 1979 in Syrien geboren wurde, in Damaskus englische Literatur studierte, als Journalist arbeitete und 2014 in Schweden Asyl beantragte, wo er seither lebt. So wie das Leben von Khaled Alesmael bewegt sich auch das des Ich-Erzählers Furat in Syrien vor und während des Krieges, auf der Flucht über die Türkei nach Schweden und in einem Asylantenwohnheim in Südschweden, wo Furat beginnt, seine Geschichte aufzuschreiben.


In immer wieder wechselnden Zeitsprüngen verwebt der Roman Erlebnisse von Furat aus Kindheit, Jugend, Studienzeit und ersten schwulen Erfahrungen mit Geschehnissen, Eindrücken und Phantasien in der Gegenwart des in Schweden Asyl Suchenden. Die im syrischen Staatsterrorkrieg erfahrene Gewalt zieht sich dabei ebenso durch das Buch wie die zum Teil drastischen Schilderungen sexueller Phantasien und Handlungen sowie das Phänomen gesellschaftlicher Homophobie, der Furat auch unter den Asylsuchenden in Schweden ausgesetzt ist.

Das Urteil
«Selamlik», was sich übrigens auf den allein von Männern bewohnten Teil des Hauses bezieht, ist allein schon deswegen gesellschaftlich brisant und lesenswert, weil der Roman mit den Themenfeldern Gewalt, Traumatisierung und Flucht zugleich das Thema der Queerness in einer von machistischen Werten geprägten Gesellschaft verbindet. Das von Christine Battermann und Joachim Bartholomae übersetzte Buch ist dabei an keiner Stelle rührselig oder anklagend. Im Gegenteil: es ist in einer klaren, zum Teil fast journalistischen Sprache beschreibend und besonders in den Schilderungen der sexuellen Phantasien direkt bis drastisch.

Das dem Buch in einigen Medien wie auch in seinem Klappentext zugesprochene Attribut des «Poetischen» konnte ich ehrlich gesagt nicht wirklich in ihm entdecken. Dazu ist seine Sprache in jeder Hinsicht dieses Wortes zu prosaisch – anders als etwa ein Roman wie «Auf Erden sind wir kurz grandios» von Ocean Vuong (zum MANNSCHAFT-Interview mit dem Autor), der ein drastisch-klares Sprechen mit hoher poetischer Vibration verbindet. Die schnörkellose Direktheit von Khaled Alesmaels Stil kann man allerdings auch als Markenzeichen und Tugend verstehen. Mich haben dabei besonders diejenigen Passagen beeindruckt, in denen Furat den Terror mitten im syrischen Alltag erlebt.


So zum Beispiel eine Szene, in der direkt vor der Wohnung, in der er mit einem schwulen Freund zusammen ist, ein Mann erschossen wird und direkt danach die «Sicherheitskräfte» in das Haus eindringen, einen Scharfschützen auf dem Dach postieren und sich als Beute noch die von Furat geliebte junge Hündin rauben. Oder der Tod des Sohns von Laila, einer Cousine von Furat.

«Als man ihren Sohn aus den Trümmern zog, sah er aus wie eine kleine Zementstatue mit einem Ranzen auf dem Rücken. Sie nahm ihn auf ihre Hüfte, drückte sein Gesicht mit dem Arm an ihren nackten Busen und legte ihm ihren Hidschab über den Kopf. Dann schloss sie sich barfuss dem Pulk an, der durch den Bombenhagel zum Euphratufer rannte, und warf sich zusammen mit Dutzenden weiteren Verängstigten in ein kleines Boot aus Metallblech, mit dem sie zum Nordufer ablegten…»

Die schnörkellosen, um nicht zu sagen schonungslosen Schilderungen solcher Ereignisse gehören ebenso zu den Stärken des Buches wie die collagenartige Vernetzung der verschiedenen Zeitpunkte des Erzählten und die Überblendung von Realem und Phantasierten, die Alesmael immer wieder einsetzt, um die bedrückende Realität zu überwinden und sie zugleich grell zu beleuchten. Die kaum lösbare Verbindung von Autobiographischem und Fiktiven, die das gesamte Buch prägt, wird dabei metareflexiv in den letzten beiden Kapiteln thematisiert, indem die Handlung damit verwoben wird, dass Proben des Manuskripts in fiktiven Gesprächen einem arabischen und einem schwedischen Lektor vorgestellt werden – mit gänzlich unterschiedlichen Reaktionen.

Eine eher unfreiwillig komische Blüte treibt die Verbindung von Dokumentiertem und Fiktivem dadurch, dass bestimmte Jahreszahlen nicht ganz stimmen können: So ist Furat im Jahre 2000 zum Todeszeitpunkt von Hafiz-al-Assad, womit die Handlung einsetzt, 19 Jahre alt: Er wäre demnach 1981 geboren. Auf Seite 72 in der deutschen Ausgabe heisst es dann jedoch «Ich selbst war das erste Mal an einem Abend im Oktober 2000 im Sibki Park; damals war ich einundzwanzig Jahre alt.» Demnach wäre Furat schon 1979 geboren – so wie Khaled Alesmael, der uns in «Selamlik» trotz fiktiver Beigaben letzten Endes seine eigene Geschichte erzählt, wie er den Ich-Erzähler ganz am Endes des Buches auch noch einmal explizit sagen lässt:

«Das Erste, was ich mir in Schweden kaufte, war ein Heft. Ich wollte meinen Tagesablauf in der Asylboende festhalten, letztlich jedoch schrieb ich mehr über meine Erinnerungen aus Syrien. Und was am Ende dabei herauskam, sind diese Aufzeichnungen hier. Ob es sich dabei um eine Autobiografie handelt oder um einen Roman, um Kurzgeschichten, Reportagen, meine Memoiren oder Tagebücher, weiss ich nicht. Was ich aber weiss, ist, dass ich die Wahrheit geschrieben habe, die unverfälschte Wahrheit. Jeder Abschnitt beschreibt eine Szene aus meinem Leben, und wenn Sie sie alle lesen, erhalten Sie einen Roman.

«Werden Sie ihn unter Ihrem eigenen Namen veröffentlichen?», fragte der schwedische Lektor interessiert. Mein ganzes Leben war ich auf der Suche nach Furat. Jetzt, wo ich ihn in diesem Buch gefunden habe, werde ich ihn nicht wieder verlieren. Deshalb wird das Buch meinen Namen tragen.»

Das Buch «Selamlik» (ca. 280 Seiten – ISBN 978-3-86300-302-9) kann man direkt bei Albino bestellen.

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