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«Moralische Werturteile sind fehl am Platz»

Barebacking-Beitragsbild

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In Diskussionen rund ums «Barebacking» kommt oft auch das sogenannte Bug-Chasing («Virenjagd») zur Sprache – das Phänomen, wonach sich HIV-negative Bug-Chaser bei HIV-Positiven absichtlich mit dem Virus anstecken. Letztere gelten dabei als Gift-Giver («Geschenkgeber»). Sie sind die «Spender», sozusagen, die das Virus als ein Geschenk an den anderen weiterreichen. Die Beweggründe für ein solches Verhalten können ganz verschieden sein. «Manchen Männern dient dies als Mittel, um Beziehungen zu formen», schreibt Tim Dean. Der US-amerikanische Englischprofessor hat mit «Unlimited Intimacy: Reflections on the Subculture of Barebacking» ein Buch zum Thema verfasst. «Bei meinen Recherchen habe ich gelernt, dass Schwule nicht nur des Kicks wegen ungeschützten Sex haben», führt der Autor aus. «Vielmehr wollen einige dabei auch Intimität und Verletzlichkeit erleben.» Die Weitergabe von HIV als «etwas Greifbares» stehe dabei als «Symbol für eine emotionale Verbundenheit zwischen zwei Menschen».

Nicht überbewerten
Ein weiteres Motiv, erklärt Vinicio Albani von der Aids-Hilfe Schweiz, könne bei manchen auch darin bestehen, dass sie eine HIV-Infektion für fast unvermeidlich hielten in der Szene. «Sie entscheiden sich deshalb bewusst für eine Ansteckung, um dadurch die permanente Angst davor loszuwerden.» Dass Bug-Chasing vorkomme, sei möglich, so Albani. Seiner Ansicht nach handelt es sich aber eher um ein Phänomen der Neunziger- und Nullerjahre, das nicht überbewertet werden sollte.

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Tim Schomann, Kampagnenleiter «Ich weiss was ich tu», Deutsche AIDS-Hilfe.

«Mit den heutigen Schutzmassnahmen ist es sehr wohl möglich, in der Szene zu verkehren, Sex zu haben und sich nicht zu infizieren», so der Experte. «Und ich denke, dass dies den meisten bewusst ist.» Auch Tim Schomann von der Deutschen AIDS-Hilfe ist vorsichtig, was das Bug-Chasing angeht. «Wir haben uns diesbezüglich mit Fachpersonen kurzgeschlossen und sie nach ihrer Einschätzung gefragt», erklärt er. «Die Epidemiologen sprechen von einer Randerscheinung, die sich in der Statistik der Neudiagnosen nicht bemerkbar macht.» Schomann hält das Ganze für «Aufschneiderei – da wird viel behauptet, in der Realität ist das eher selten».


Zentral: Testen und vorsorgen
Safer-Sex-Debatten drehen sich meist nicht nur um HIV, sondern auch um weitere sexuell übertragbare Infektionen (STI) wie Chlamydien, Gonorrhö, Hepatitis und Syphilis. «Sowohl die PrEP als auch eine effektive antiretrovirale Behandlung machen es möglich, ohne nennenswertes HIV-Infektionsrisiko kondomlosen Analsex zu haben», sagt Tim Schomann. Dem werde oft entgegengehalten, dass einen diese Methoden aber «vor allem anderen» nicht bewahrten. «Und das stimmt», erklärt Schomann. «Allerdings muss man sich bewusst sein, dass das Kondom hier ebenfalls nicht immer ausreichend Schutz bietet.» So werden die erwähnten STI häufig auch durch Oralsex weitergegeben, bei Syphilis zum Beispiel kann bereits Küssen genügen.

[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]«Heutzutage kann man Sex ohne Kondom haben und trotzdem verantwortungsvoll handeln – das soll man anerkennen»[/perfectpullquote]

Laut Schomann haben Untersuchungen gezeigt, dass PrEP-Nutzer, die auf Gummis verzichten, zwar vermehrt von den «anderen Geschlechtskrankheiten» betroffen sind als Männer, die Kondome verwenden. Da sie in der Regel aber in ein engmaschiges Test- und Vorsorgeangebot eingebunden seien, würden die Infektionen früh erkannt und behandelt. «Erste Daten aus Ländern wie England zeigen, dass die STI-Ansteckungsraten insgesamt zurückgehen.» Vinicio Albani weist an dieser Stelle darauf hin, dass eine Impfung gegen Hepatitis A und B sehr wichtig sei. «Gerade Hepatitis B wird sehr schnell und einfach übertragen. Es kann daher nicht schaden, einen Kontrollblick in den Impfausweis zu werfen.»


Breiteres Repertoire, mehr Auswahl
Über einen Punkt soll das bisher Gesagte nicht hinwegtäuschen: «Unter Schwulen ist das Kondom nach wie vor die erste Wahl, um sich zu schützen», sagt Tim Schomann. Daran habe auch die Tatsache nichts geändert, dass eine zunehmende Anzahl schwuler Männer nebst dem Kondom zusätzliche Schutzstrategien erprobe und in ihr Repertoire aufnehme. «Das ist eine wichtige und gute Entwicklung, die für die Präventionsarbeit eine grosse Bereicherung darstellt», mein Schomann. «Und für viele Menschen ist es auch eine Entlastung – sie können nun zwischen verschiedenen Safer Sex-Methoden wählen.» Aussagen, die auch Vinicio Albani unterstützt. «Heutzutage kann man Sex ohne Kondom haben und trotzdem verantwortungsvoll handeln – das soll man anerkennen», erklärt Albani. Wichtig sei, dass man sich mit den Risiken sowie den Schutzmöglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, auseinandersetze und entsprechende Erkundigungen einhole. «Und», fügt Albani an, «man sollte die Thematik wertungsfrei betrachten und nicht verteufeln – sonst sind wir schnell bei der Moral, und das finde ich heikel.»


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