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Kirchensteuer? Keine Belohnung für Missbrauch und Diskriminierung!

Welche Konsequenzen sind aus dem Missbrauchsskandal zu ziehen?

Mindestens 497 Kinder und Jugendliche sind laut einer aktuellen Studie seit 1945 im Erzbistum München und Freising von Priestern, Diakonen oder anderen Mitarbeitern der Kirche sexuell missbraucht worden. Und das ist nur das Hellfeld. Die Politik sollte endlich aufhören, eine Steuer einzutreiben, mit der (auch) Missbrauch und Diskriminierung finanziert werden, schreibt unser Autor in seinem Kommentar*.

Der Schock sass tief: Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima beschloss Deutschland, aus der Atomenergie auszusteigen. Ähnlich erschütternd sind die Ausmasse sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München – und die jahrelange Vertuschung der Fälle. Darum ist es höchste Zeit, das Verhältnis Staat und Kirche zu reformieren und die ungute Kooperation, die einmalig ist in der Welt, zu beenden.

Seit Donnerstag liegt ein neues Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising vor. Darin werden schwere Vorwürfe gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI erhoben. Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger habe – so die vom Bistum beauftragte Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) – in seiner Zeit als Münchner Erzbischof Missbrauchstäter «mit hoher Wahrscheinlichkeit» wissentlich in der Seelsorge eingesetzt und darüber die Unwahrheit gesagt (MANNSCHAFT berichtete)

18 Täter durften sogar nach «einschlägiger Verurteilung» weitermachen. Ein Wahnsinn.


Missbrauch in kirchlichen Zusammenhängen ist leider nichts Neues. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, sieht systemische Gründe. «Es gibt kirchliche Muster und Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen», sagte Kurschus der Rheinischen Post (Samstag).

Dennoch sammelt der deutsche Staat immer noch brav die Kirchensteuer für die katholische (und evangelische) Kirche ein. Nicht mal im katholischen Polen wird eine Kirchensteuer erhoben.

Von mehreren Seiten wurde am Freitag die Forderung nach einer stärkeren Kontrolle der katholischen Kirche in Deutschland laut. «Für uns ist eine enge Zusammenarbeit mit der Politik und den Strafverfolgungsbehörden sehr wichtig», sagte die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, dem Spiegel. «Wir sind der Meinung, dass die Aufarbeitung gezielt in die Hände komplett unabhängiger Instanzen gegeben werden muss».


Das ist überfällig. Aber es reicht nicht.

Denn der Missbrauch ist das eine. Dazu kommt das kirchliche individuelle Arbeitsrecht, das Menschen aufgrund ihrer Lebensführung und sexuellen Orientierung diskriminiert. 2018 etwa erhielt ein Referendar wegen der geplanten Heirat mit seinem Lebensgefährten keine Festanstellung als Lehrer, obwohl der Vertrag schon unterschriftsreif war. Das katholische Privatgymnasium Mariengarden im nordrhein-westfälischen Borken zog sein Stellenangebot zurück. Denn: Die persönliche Lebenseinstellung des Lehrers stimme nicht mit den Vorstellungen der katholischen Kirche von Ehe und Familie überein, begründete der Oblatenorden in Mainz, der das Gymnasium betreibt, damals seine Entscheidung. Der einstige Referendar sei ausschliesslich aufgrund seiner Hochzeitspläne abgelehnt worden. Seine Homosexualität sei nicht ausschlaggebend gewesen, hiess es.

2018 hatte der Vatikan den deutschen Jesuiten-Rektor Ansgar Wucherpfennig schon gefeuert, weil er zu schwulenfreundlich war. Nachdem etliche Institutionen und Organisation protestiert hatten, durfte er schliesslich blieben (MANNSCHAFT berichtete)

2015 hatte die Katholische Kirche nach langer interner Diskussion ihr homofeindliches Arbeitsrecht liberalisiert. Neu: Schwule und Lesben sollen nun nicht mehr mit einer automatischen Kündigung rechnen müssen.

«Nicht automatisch» heisst: Seelsorger*innen und Religionslehrer*innen müssen auch weiterhin zittern.

2017 hat der Bundestag die Ehe auch für schwule und lesbische Paare geöffnet (MANNSCHAFT berichtete)

Auch wenn damals nur jede*r vierte Abgeordnete der Union dagegen stimmte, würde heute wohl kaum noch jemand in CDU oder CSU auf die Idee kommen, die Ehe für alle wieder zurückdrehen zu wollen. Breiter kann ein Konsens nicht sein.

Die katholische Kirche aber, dem misogynen Marschbefehl aus dem Vatikan folgend, kann sich nicht mal zu Segensgottesdiensten für homosexuelle Paare durchringen.

Und Frauen? In Deutschland dürfen sie seit 1958 ein eigenes Konto eröffnen und damit über ihr eigenes Geld entscheiden. In der katholischen Kirche aber ist es ihnen bis heute verwehrt, dieselbe Ämter zu bekleiden wie Männer, etwa als Bischöfin oder Priesterin.

Diskriminierung aus religiösen Gründen bleibt Diskriminierung. Die Kirche davon auszunehmen ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die der Willkür dieser überholten Institution zum Opfer fallen.

Olaf Scholz, der erste konfessionslose Bundeskanzler, hat bei seinem Amtseid im vergangenen Dezember auf die Formel «so wahr mir Gott helfe» verzichtet. Gut so. Denn Gott hat in der Politik nichts zu tun. Er wird die Corona-Pandemie nicht besiegen, und er hat auch keinen Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie. Das alles muss die Politik schon alleine hinkriegen. Und die neue Ampel-Koalition könnte hier mal zeigen, wie queerfreundlich sie ist. Interessanterweise beabsichtigt aber keine der drei Parteien, das staatliche Einziehen der Kirchensteuer auch nur anzutasten.

Die Politik sollte nicht länger Gelder eintreiben, mit denen Missbrauch und Diskriminierung finanziert werden. In den sozialen Medien wird derzeit fleissig ein Sharepic herumgereicht mit der sehr berechtigten Frage: «Müsste man jetzt nicht jeden, der Kirchensteuer zahlt, fragen ob er wirklich eine kriminelle Vereinigung unterstützen möchte?»

Vielleicht hat sich die Sache aber auch bald von allein erledigt: Denn die Zahl der Kirchenaustritte steigt rasant, in der bayerischen Hauptstadt zumindest. Laut Münchner Merkur verliessen 22.232 Menschen die katholische oder evangelische Kirche, gut 8.700 mehr als im Vorjahr. Dies sei der höchste Wert der zurückliegenden 20 Jahre, heisst es unter Berufung auf das Münchner Kreisverwaltungsreferat. Im Jahr 2000 habe die Zahl der Abgänge noch unter 9.000 gelegen.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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