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Kahl – egal?

Bilder im Kopf
Fest steht, dass man mit Haaren vieles ausdrücken und verschiedenste Effekte erzielen kann. Gerade bei Männern sende die Frisur dabei durchaus ambivalente Signale aus, erklärt Pierre de Viragh. «Unter Umständen wirken Glatzen männlich. Oder sie werden, wie das Beispiel von Buddha zeigt, mit Weisheit verbunden.» Insgesamt seien kahle Köpfe aber nach wie vor mit eher negativen Assoziationen behaftet. «Man weiss zum Beispiel von Studien, wonach es Glatzenträger bei der Jobsuche schwerer haben», so de Viragh. Und Kolumnist Daniel Jones beschreibt es in der New York Times so: «Wie jeder und jede andere bin auch ich schon Zeuge davon geworden, wie eine fortschreitende Glatze sogar die jugendlichsten und schönsten Männer plötzlich alt und clownesk aussehen lassen kann.»

Die Übeltäter? Gene und Geschlechts­hormone
Warum aber fallen Haare überhaupt aus? «Der Grund liegt in den Genen, etwas vereinfacht gesagt», sagt Pierre de Viragh. Wie der Arzt erklärt, hängt es von der genetischen Veranlagung eines Mannes ab, wie empfindlich seine Haarwurzeln auf das männliche Geschlechtshormon Dihydrotestosteron (DHT) reagieren. «Das DHT ist ein Nebenprodukt des Testosterons und hat im Körper eigentlich nur eine Funktion: Im Zeitraum zwischen dem Embryonalstadium und der Pubertät sorgt es für die Ausbildung und Entwicklung der männlichen Genitalien.» Nach Abschluss der Pubertät verliere das DHT aber seinen Zweck und treibe eigentlich «nur noch Unsinn», wie es de Viragh formuliert. «Es lässt nicht nur Nasen- und Ohrenhaare spriessen, sondern auch die Prostata anwachsen. Und es bewirkt den Verlust des Kopfhaares, indem es die Haarwurzel angreift.» Diese verkümmert infolge dessen, das Haar fällt aus. «Aber eben nicht jeder reagiert gleich auf das DHT», betont de Viragh. «Je nach Genpool des Mannes sind seine Haarwurzeln mehr oder weniger anfällig auf das Hormon.»

Man kann sich wehren
Vom Griff zum Toupet einmal abgesehen, waren Männer früher machtlos gegen diese Entwicklung. Heute hingegen bestehen verschiedene Möglichkeiten, um der Glatzenbildung entgegenzutreten. Da wäre zum einen das Verfahren der Haartransplantation. Dabei werden am Hinterkopf intakte Haarwurzeln entnommen und an den kahlen Stellen wieder eingesetzt. Nach ein paar Monaten sollten dann neue Haare spriessen.


Eine Garantie, dass die transplantierten Wurzeln tatsächlich anwachsen, besteht allerdings nicht. Zum anderen verfügt die Pharmazie mit Minoxidil und Finasterid über zwei Medikamente, die als wirksam gelten. Alle anderen im Handel angepriesenen Mittelchen, Tabletten und Tinkturen – da sind sich die Experten einig – taugen nichts.

Vom Neben- zum Haupteffekt
Was das Minoxidil angeht, so war dieses ursprünglich zur Senkung von Bluthockdruck entwickelt worden. Bald schon offenbarte sich aber ein interessanter Nebeneffekt: Das Medikament liess bei manch einem Patienten die Haare wieder wachsen. Daraufhin wurde die Neben- zur Hauptwirkung erhoben, heute setzt man Minoxidil nur noch im Kampf gegen den Haarverlust ein. Die Flüssigkeit wird morgens und abends sanft auf die Kopfhaut aufgetragen, wobei man sie aber nicht einmassieren sollte. «Einmassieren kann zu Irritationen führen», erklärt Pierre de Viragh. «Manch einer setzt das Medikament daraufhin ab, weil er die Irritationen fälschlicherweise für eine Allergie hält.» Wie genau das Präparat funktioniert, steht bis heute nicht abschliessend fest. Sicher falsch sei aber die oft gehörte Behauptung, Minoxidil wirke, indem es für eine bessere Durchblutung im Haarwurzelbereich sorgte, so de Viragh. «Minoxidil stimuliert die Haare auch in der Zellkultur, und zwar abgekoppelt von der Blutversorgung.»

Foto: Pascal Triponez

Kein DHT mehr, bitte
Die Wirkungsweise von Finstasterid ist demgegenüber geklärt: Es blockiert das Enzym, das für die Umwandlung von Testosteron zu DHT verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Die Einnahme von Finasterid-Tabletten sorgt dafür, dass der Körper kein DHT mehr bildet. Jene Haarwurzeln, die auf DHT anfällig sind, bleiben dementsprechend unversehrt und erfreuen sich weiterhin ihres Lebens. Die Folgen sind erstaunlich: Bei fast allen Betroffenen wird der Haarausfall gestoppt, in vielen Fällen kann gar ein Nachwachsen der Haare beobachtet werden – all dies jedoch nur, solange die Tablette täglich eingenommen wird. Setzt man die Behandlung ab, nimmt auch der Haarausfall wieder seinen Lauf.


Haare – mit Nebenwirkungen?
Finasterid ist ausgesprochen wirksam, doch ganz unumstritten ist es nicht: Seit Längerem weiss man, dass die Einnahme des Präparats zu unangenehmen Begleiterscheinungen wie
Hodenschmerzen, einer Verminderung der Libido oder Potenz­schwierigkeiten führen kann. Laut de Viragh rechnet man, dass bei rund 1 von 200 solche Nebenwirkungen auftreten.

[perfectpullquote align=“full“ bordertop=“false“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]«Vereinfacht gesagt geht es um die Frage: Will ich Sex oder Haare?»[/perfectpullquote]

«Bei vielen, die das Medikament weiterhin einnehmen, verschwinden diese Störungen aber mit der Zeit.» All jene, bei denen das nicht der Fall sei, müssten sich entscheiden: Mittel absetzen oder weiterhin schlucken? «Vereinfacht gesagt geht es dann um folgende Frage: Will ich Sex oder Haare?», so de Viragh. Wie der Arzt erklärt, sind die Nebenwirkungen des Finasterids in aller Regel reversibel – sie verschwinden also, sobald der Betroffene auf die Pilleneinnahme verzichtet.

«Post-Finasterid-Syndrom»
Nun gibt es aber auch jene, die Gegenteiliges berichten: Die Nebenwirkungen seien geblieben, obwohl sie das Medikament abgesetzt hätten, so die Aussage der Betroffenen. Das Phänomen, wonach Finasterid zu bleibenden Langzeitschäden führen kann, wird als Post-Finasterid Syndrom (PFS) bezeichnet. Geprägt wurde der Begriff von der «Post-Finasteride Syndrome Foundation», einer NGO aus dem US-amerikanischen Bundesstaat New Jersey. Finasterid könne «niederschmetternde und lebensverändernde Folgen für die sexuelle, psychische und physische Gesundheit von Männern haben», schreibt die Organisation auf ihrer Webseite. Sie will deshalb vor allem die wissenschaftliche Forschung zum PFS vorantreiben und «weltweit ein Bewusstsein für die Thematik schaffen.»

«Kein sexuelles Verlangen»
Dieses Bewusstsein, so scheint es, nimmt tatsächlich fortlaufend zu. «Der grösste Widerstand gegen Finasterid formt sich derzeit in den USA», schrieb vor ein paar Monaten etwa die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Der Titel des Artikels: «Kampf gegen Glatze ist nicht frei von Risiken». In den Staaten würden mittlerweile hunderte von Klagen die Gerichte beschäftigen. «So soll die regelmässige Einnahme des Wirkstoffs zu möglicherweise irreversiblen Folgen wie Potenzstörungen, Libidoverlust und Depressionen führen.» Auch Magazine wie Der Spiegel oder Men’s Health haben schon über das PFS geschrieben, wobei besonders der ausführliche Bericht auf menshealth.com ziemlich schwere Kost bereithält. Autor Jim Thornton zitiert nicht nur beunruhigende Studien zum PFS, sondern legt auch Erfahrungsberichte Betroffener dar. Wie jenen von Mark, zum Beispiel, bei dem die Symptome kurz nach Absetzen des Medikaments zurückgekommen seien, «und zwar schlimmer als je zuvor». Sein Lustempfinden, so Mark, sei «komplett verschwunden», ein Bedürfnis nach Sex habe er schlicht nicht mehr empfunden.


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