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Gegen die An­passung: Familie ist nicht nur Bluts­verwandtschaft

Drei Schritte für eine zeitgemässe und glückliche Familie

Foto: Pixabay

Familie ist da, wo es sich stimmig anfühlt und Menschen in freier Wahl Verantwortung füreinander übernehmen. In dieser kurzen Formel ist alles enthalten, was heute eine moderne und glückliche Familie ausmachen sollte. Aber ist unsere Realität schon so modern? Dazu der Kommentar* von Bertold Höcker, dem früheren Superintendenten des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte.

In meiner seelsorgerlichen Praxis, bei Trauungen und auch im privaten Umfeld erlebe ich oft, dass nicht nur, aber insbesondere queere Personen, Familiennormen übernehmen, deren Ursprünge in einer zutiefst patriarchalen und heteronormativen Gesellschaftsvergangenheit liegen. Meistens steht dahinter das Versprechen von Sicherheit oder das «einfach Dabei-Sein-Wollen» in der gefühlten Normalität.

Doch der Preis dafür ist, sich anzupassen, an das, was für mich nicht stimmig ist: z.B. meine Identität zu verleugnen, sexuelle Bedürfnisse zu unterdrücken, Ängsten zu folgen und so vieles mehr. Dieser Preis wird mit Unglücklichsein, Konflikten und dem Gefühl der Fremdbestimmung bezahlt.

Warum wir an überkommen Vorstellungen hängen
Neu ist die Möglichkeit, Lebensformen frei zu wählen – gerade auch für LGBTIQ Personen. Leider sind allzu oft heteronormative Vorstellungen von Beziehungen bestimmend. In der Weihnachtszeit werden wir allerorts mit der sogenannten «Heiligen Familie», bestehend aus Maria, Josef und dem Christuskind, konfrontiert. Diese stellt uns vor Augen, wie eine ideale Familie aussehen sollte. Aber hat das überhaupt etwas mit den Überlieferungen aus der Bibel zu tun? Nicht wirklich.


Was wir an Weihnachten erleben, ist, was im 19. Jahrhundert aus dieser Familie gemacht wurde. Das Lukasevangelium berichtet, dass Josef eine Frau annimmt, die nicht von ihm schwanger ist und mit ihr ein Kind bekommt, das keinesfalls seins ist – eine nach damaligen Wertvorstellungen ungeheure Tatsache.


«Und – bist du auch homo?» (Teil 2 unserer neuen Kolumne «Familie ist, wenn man trotzdem lacht»)


Die Zeit des Biedermeiers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die Vorstellung dieser «Heiligen Familie» mit ihren Werten überformt und als Vorbild stilisiert. Und bis heute prägen uns die Ehe- und Familienwerte, wie sie im Biedermeier verstanden wurden – ganz egal, ob in queeren oder heterosexuellen Beziehungen. Treue galt im Biedermeier vor allem als sexuelle Treue, und die Verbindung von Mann und Frau diente wesentlich der Erzeugung von Nachkommenschaft.


Familie war der Rückzug ins Private und in die heimische Idylle. Schon das Begehren einer anderen Person wurde als Treuebruch verstanden. Diese Vorstellungen finden wir auch heute noch. Vor dem 19. Jahrhundert galt Treue hauptsächlich dazu, sicherzustellen, dass die Kinder in einer Ehe auch vom Ehemann abstammten. Kinderlose Ehen galten als defizitär. Wenn ich nun die Bemühungen betrachte, die kinderlose Paare heute für ihr Wunschkind unternehmen, fällt mir auf, dass es gesellschaftlich besonders unterstützt wird, diesen Wunsch mit allen Mitteln zu erfüllen.

Anstatt die Kinderlosigkeit vielleicht anders zu deuten, zum Beispiel als seelsorgerliche Aufgabe, für andere da zu sein. Soweit kurz zum Hintergrund, auf dem viele unserer heutigen Vorstellungen ruhen – auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.

Was ist Familie jenseits traditioneller Vorstellungen?
Das lateinische Wort «familia» bezeichnete in der Antike eine Hausgemeinschaft, die unter der Herrschaft eines Mannes («dominus») stand. Er versorgte diese Gemeinschaft und schützte sie. Zur «familia» gehörten alle Menschen, die vom Herrn des Hauses dazu gerechnet wurden. Erst im abgeleiteten Sinne bedeutete «familia» eine Geschlechtslinie – also Personen, die durch Blutsverwandtschaft zur Familie gehören. Sie bildeten aber nur eine Untergemeinschaft innerhalb der «familia».

So unterlag es in der Entstehungszeit des Wortes «familia» der Entscheidung eines Hausherrn, wer dazugehörte. Voraussetzung war allerdings eine antike Gesellschaft von Sklaven und freien Menschen. Und zur «familia» gehörten damals sowohl Sklaven als auch Freie.

Mit dem Christentum kam in der Antike der Gedanke der Gleichheit aller Menschen auf. Familie waren daraufhin alle, die sich in freier Wahl zu einer Familie zusammenschlossen, weil sie – zumindest in der Theorie – alle die gleichen Rechte und Pflichten hatten. Familie wurde so zu einer Gemeinschaft von Menschen, die aufgrund ihrer Gleichheit sich verpflichteten, sich zu versorgen und zu schützen.

Die heute meistgebrauchte Definition «Familie ist dort, wo Kinder sind», entspricht nicht der Geschichte des Wortes. Ganz im Gegenteil. Sie stellt eine Verengung dar, die der Nationalsozialismus mit seiner Idee einer «Keimzelle des Volkes» pervertierte.

Freiwilligkeit, Fürsorge, Resonanz – 3 Schritte zum familiären Glück
Familie ist dort, wo Menschen in freier Wahl Verantwortung füreinander übernehmen. Hatte in der Antike noch der Hausherr diese Verantwortung, so sind es heute alle zu dieser Familie gehörenden Mitglieder, die dazu imstande sind. Dazu gehört selbstverständlich, dass die Familienmitglieder, welche die Verantwortung für ihr Leben nicht (mehr) selbständig wahrnehmen können, versorgt werden. Dass Kinder in einer Familie sind und dort umsorgt werden, ist nicht ausschlaggebend dafür, wie und ob sich eine Familie bildet.


«Bester Tag meines Lebens» – Das waren die queeren Ja-Worte 2023


Schaffen wir es, Idealbilder der «Heiligen Familie« in ihrem biedermeierlichen Idyll zu überwinden? Ich ermutige dazu, dass gerade LGBTIQ-Personen auf der Grundlage des hergeleiteten Familienbegriffs neue Formen entwickeln und leben. Dabei konstituiert sich eben Familie aufgrund freiwilliger Wahl und nicht mehr allein auf Blutsverwandtschaft. Manchmal ist es notwendig, so erlebe ich es öfter bei LGBTIQ-Personen, dass Menschen die Beziehung zu ihrer Ursprungsfamilie aufgeben, um ein Leben in Übereinstimmung mit ihrer Identität in einer neuen Familie führen zu können.

Die Übereinstimmung mit meiner Identität, das Sich-Stimmig-Anfühlen, ist der letzte Schritt in eine glückliche Familie. In jüngster Zeit hat der Philosoph und Theologe Hartmut Rosa mit dem Begriff der «Resonanz» ein Werkzeug vorgestellt, das uns helfen kann, neue Formen von Familie zu entwickeln und zu begründen sowie die freie Wahl des Zusammenschlusses besser zu deuten.

Resonare heisst wörtlich «Zurückklingen» und meint ein Gefühl, wenn z.B. eine Beziehung zu einer anderen Person, ein Raum oder ein Sachverhalt bei uns etwas zum Schwingen bringt. Einige übersetzen das dann mit dem Gefühl der Stimmigkeit oder mit der gefühlten Intuition, dass etwas für mich richtig ist. Dieses Gefühl der Stimmigkeit oder der Resonanz ist für Familie ein zentrales Kriterium.

Familie besteht dann aus Personen, die gegenseitig in ihrem Zusammenleben das Gefühl der Stimmigkeit haben. Alle Personen in dieser Familie fühlen, dass im jeweils Anderen für mich eine Erkenntnis, ein Verantwortungsgefühl und ein Einander-Wohlsein-Wollen liegt. Das macht eine Familie aus, die in Resonanz lebt. Und erfahren, ob es resoniert, können Sie daran: Was sich stimmig anfühlt, macht glücklich.

Queere Personen haben die Chance, nicht in überkommenen Beziehungsformen leben zu müssen, sondern die in ihnen liegende besondere Identität zum eigenen Ausdruck zu bringen – die sich in heterosexuellen oder durch Blutsverwandtschaft konstituierten Formen für LGBTIQ eben nicht findet. Dabei ist es unerheblich, ob Kinder dabei sind oder nicht. Wichtig ist, dass Verantwortung wechselseitig übernommen wird.

Mich persönlich macht es glücklich, stimmige Beziehungen zu leben, als mich in überkommene Formen einzuordnen, die mir zumal wegen meiner Identität gar nicht entsprechen. Ich erlebe leider noch zu häufig, dass in Familien mit gleichgeschlechtlichen Identitäten heterosexuelle Normen übernommen werden, weil sie eine falsche Sicherheit vorspiegeln. Aber der Preis ist Anpassung an etwas, was eben nur zum Teil resoniert. Das gilt für Zweierbeziehungen ebenso wie für Familien mit und ohne Kinder.

Jetzt an Weihnachten, wo am Heiligen Abend alle dorthin zurückkehren sollten, wo sie sich wirklich zu Hause fühlen, haben wir – und gerade als LGBTIQ Personen – die Chance, die überkommenen Bilder zu hinterfragen und mit der resonierenden Familie zu feiern. Ein glückliches Weihnachten, mit Menschen, die freiwillig füreinander Verantwortung übernehmen, weil es sich stimmig anfühlt.

*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


Zum Weiterlesen:
Höcker, Bertold, et al.: Religion und Homosexualität: aktuelle Positionen. Wallstein, 2013.
Schmelzer, Christian: Gender Turn. Gesellschaft jenseits der Geschlechternorm. De Gruyter, 2012.
Schnarch, David: Intimität und Verlangen. Sexuelle Leidenschaft in dauerhaften Beziehungen. Klett-Cotta, 2013.
Rosa, Harmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp, 2019.

Die EU teilte im Dezember mit, dass Kinder künftig in jedem Mitgliedstaat gleiche Rechte erhalten sollen, besonders in Bezug auf Sorgerecht, Unterhalt und Erbfolge (MANNSCHAFT berichtete).


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