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Für die queeren NS-Opfer: Gedenken bedeutet Handeln

Die CDU-Präsidenten des Bundestages hatten das Thema Jahr für Jahr abgeblockt

Gedenkstunde
Maren Kroymann bei der Gedenkstunde für die queeren NS-Opfer im Bundestag (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

78 Jahre nach Kriegsende hat der Deutsche Bundestag in seiner Gedenkstunde für NS-Opfer erstmalig jene Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität im Nationalsozialismus verfolgt wurden. Der Autor dieses Kommentars* war im Bundestag dabei. Und er ist wütend.

Es war eine ergreifende und würdige Veranstaltung, die aber auch deshalb zu spät kommt, weil es keine lebenden Opfer mehr gibt. Es mutete schon einem Kampf gegen Windmühlen an, wenn der LSVD, zusammen mit anderen Akteuren, jahrelang versuchte das Thema der verfolgten Homosexuellen und queeren Menschen, in der Zeit des Nationalsozialismus, als thematischen Schwerpunkt für die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag vorzuschlagen.

Sowohl der vorletzte Präsident, Norbert Lammert, als auch der letzte Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble (beide CDU), haben Jahr für Jahr das Thema abgeblockt (MANNSCHAFT berichtete). Dies änderte sich erst mit Bärbel Bas, als neue Präsidentin des Deutschen Bundestages. Schon kurz nach ihrer Amtsübernahme signalisierte sie Bereitschaft und begann die Vorbereitung der Gedenkstunde (MANNSCHAFT berichtete). Gleichzeitig initiierte sie eine weitere Premiere, nämlich dass am Vorabend der Gedenkstunde, in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages eine Veranstaltung stattfinden konnte, welche die Verfolgung und Kriminalisierung von LGBTIQ in Deutschland in der Vergangenheit bis heute thematisierte.

Die Nationalsozialisten haben die Verfolgung von queeren Menschen nicht «erfunden». Sie haben die Art der Verfolgung verschärft und pervertiert. Der Paragraph 175 stammt aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs 1871. Eine reaktionäre und patriarchalische Gesellschaft mit christlich bigottem Weltbild waren der Nährboden für dieses Gesetz. Es überstand die Weimarer Republik vor der nationalsozialistischen Diktatur ebenso, wie 46 Jahre Nachkriegsdeutschland in West und Ost. Das Leben von LGBTIQ in Deutschland war für den Grossteil der letzten 150 Jahre eine Geschichte der Kriminalisierung, Verfolgung und Ausgrenzung durch den Staat und die Gesellschaft.



In «Grosse Freiheit» spielt Franz Rogowski einen schwulen Mann, der erst von den Nazis ins Gefängnis gesteckt wird und dann in der Nachkriegszeit immer wieder neu verurteilt wird wegen seiner Homosexualität


Welches himmelschreiende Unrecht schwule Männer durch die gnadenlose Anwendung des Paragraphen 175 erfahren haben, hat das während der Gedenkstunde vom Schauspieler Jannik Schümann beeindruckend in Erinnerung gerufene Schicksal von Karl Gorath (1912 – 2003) gezeigt. Der selbe Richter, der ihn in der Nazi-Zeit wegen seiner Homosexualität ins KZ schickte, verurteilte ihn 1952 erneut, nun als Richter der Bundesrepublik Deutschland, zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe. Die Tatsache, dass der § 175 nur männliche Homosexualität bestrafte, hinderte natürlich nicht die Verfolgung von Lesben in der Nazizeit (MANNSCHAFT berichtete). Das Schicksal von Mary Pünjer (1904-1942), deren Geschichte und Leiden Maren Kroymann vorträgt, belegt dies eindrucksvoll. Zwei Einzelschicksale die stellvertretend für so viele stehen.

Die Erinnerungskultur in Deutschland ist seit gestern ein Stück besser geworden. Es mutet allerdings fast als Fingerzeig in die Zukunft an, dass zu Füssen des Schriftzuges «#weRemember» auf den Stufen des Reichstages, sich eine Baustelle auftut. Nein, wir sind weder mit der Aufarbeitung der Geschichte der Menschenrechtsverletzungen zwischen 1933-1945 fertig, noch haben wir einen vollständigen «Garten des Gedenkens» fertig gestellt. Es fehlen immer noch weitere Opfergruppen, die bis heute vergessen wurden. Nun sind zwar Menschen, die auf Grund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden, in dieses stattliche Gedenken offiziell aufgenommen und anerkannt, aber dies kann nur den Anfang zur weiteren Erkundung dieser Verfolgungsgeschichte bedeuten.


Sowohl die Veranstaltung am Vorabend, wie die Gedenkstunde selbst erzeugen bei mir Gefühle der Zufriedenheit, aber auch der Wut. Endlich fand diese Gedenkstunde im Deutschen Bundestag statt. Sie erinnerte mich an die Sitzung, als die Eheöffnung beschlossen wurde (MANNSCHAFT berichtete). Keiner aus der Community schämt sich der Tränen der Ergriffenheit und Freude. Klaus Schirdewahn, der 1965 wegen des Verstosses gegen § 175 verurteilt wird und mehr als sein halbes Leben unter dem Druck dieser staatlichen Verfolgung ein Doppelleben führen muss (MANNSCHAFT+), fasst es in seiner ergreifenden Rede zusammen: Für heterosexuelle Menschen ist das nicht nachvollziehbar, was die gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Lebensweise bedeutet. Sie kennen das Gefühl nicht, dafür gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden, weil man jemanden liebt.

Die Gedenkstunde macht es vielleicht zukünftig queeren Menschen ein Stück leichter, sich zu ihrem Leben bekennen zu können. Sie war ein weiteres Signal der Entschuldigung dieses Staates für das Unrecht, das einer Minderheit durch diesen Staat angetan wurde. Wenn es ein ernst gemeintes Signal war, dann war es nicht das letzte dieser Art.

Wütend macht es mich, wie lange es gedauert hat. Nicht weil es nicht möglich war, sondern weil es nicht gewollt wurde. Wie so vieles in der Geschichte der Homosexuellen und transgeschlechtlichen Menschen in Deutschland wurde es nicht vergessen oder verbummelt, es wurde aktiv blockiert. Wütend macht es mich, dass viele Abgeordnete, die sich von ihren Sitzen erheben um zu applaudieren, bei nächster Gelegenheit die Verabschiedung des Selbstbestimmungsrechtes für trans Menschen, bei der Reform des Abstammungsrechtes oder der Ergänzung des Art. 3 (3) des Grundgesetzes wieder verzögern und blockieren werden.

Wütend macht es mich, dass diese Gedenkstunde nicht stattgefunden hätte, wenn es keinen Wechsel an der Spitze des Präsidiums des Deutschen Bundestages gegeben hätte. Wieviel Anläufe, wieviel Zeit wurde vom LSVD darauf verwendet, bis es endlich soweit war. Massgeblich ist es der Hartnäckigkeit von Günter Dworek zu verdanken, als Vorstand des LSVD, der jede Ablehnung nur als Ansporn zu neuem Anlauf gesehen hat, das dass Thema auf der Tagesordnung blieb. Als er 2022, nach über 30 Jahren Vorstandsarbeit aus dem Amt scheidet, ist dieses Ziel in Sichtweite, aber noch immer viel zu tun. Mit gleicher Hartnäckigkeit und unermüdlichem Zeitaufwand ist es Henny Engels, die als Vorstandsfrau des LSVD den Staffelstab übernimmt und über die Ziellinie bringt. Die Organisation, und Abstimmung, selbst zusammen mit einer unterstützenden Bundestagspräsidentin, ist eine grossartige Leistung. Chapeau! Es sind und waren immer verdiente Aktivist*innen der Community, die dafür gesorgt haben, dass die Emanzipation und Gleichstellung von LGBTIQ in Deutschland erfolgreich war.

Insofern ist die Gedenkstunde kein Schlussstein, sondern ein Grundstein, auf den wir alle weiter aufbauen müssen. Auf die Verabschiedung überfälliger Gesetze drängen. Die Abgeordneten der Union, die sich gestern zum Applaus von ihren Plätzen erhoben haben, morgen daran zu erinnern, dass die Zeit der Blockade endlich vorbei sein muss. Zivilcourage haben und zeigen, wo immer uns Homophobie, Transfeindlichkeit und Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen begegnet.
Es ist keine Gelegenheit zum zufriedenen Zurücklehnen. Die Zeiten sind herausfordernd. Das erkämpfte bewahren können und voran schreiten ist heute nicht selbstverständlich. Wie schnell sich das unvorstellbare in brutale Realität wandelt, sehen wir, wenn wir auf den Krieg in der Ukraine schauen.

Es geht heute mehr denn je seit Jahrzehnten darum, unsere Demokratie, unsere Werte und die Menschenrechte zu verteidigen. Dazu müssen wir alle wieder mehr bereit sein. Jetzt war das Gedenken, morgen müssen wir wieder handeln. Gedenken bedeutet Handeln.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.


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